Ziemlich bildschirmverliebt
Drei von vier Menschen entfernen sich heutzutage niemals weiter von ihrem Handy als 1,5 Meter. Das spricht für eine sehr enge körperlich enge Beziehung. Wir berühren unser Smartphone heute über 2600mal pro Tag; jeder zehnte sogar über 5400mal. Das ist mehr als man seinen Partner berührt – oder in Einsamkeit sich selbst.
Zugegeben, permanent mit der Welt digital verbunden zu bleiben, ist eine feine Sache: Wir können vor einem Bildschirm arbeiten, uns weiterbilden, mit Menschen unterhalten, shoppen, oder einfach nur unterhalten lassen. Aus all diesen Gründen steigt die tägliche Bildschirmzeit seit Jahren. Während der Corona Pandemie betrug sie durchschnittlich 10.4 Stunden pro Tag, etwa 2 Stunden mehr als in den Jahren zuvor, wie der Branchenverband Bitkom jüngst in einer Umfrage in der erwachsenen deutschen Bevölkerung erhob. Der Job allein ist es übrigens nicht. Auch privat nimmt der Medienkonsum stetig zu. Wir müssen also nicht nur, wir wollen es auch so.
Warum also um alles in der Welt soll mein Gehirn dann eine digitale Pause machen und die Nabelschnur durchtrennen, die mich mit ständig mit Informationen, mit Unterhaltungsangeboten und mit Ablenkungsmöglichkeiten versorgt?
Die Antwort lautet: Weil Ihr Gehirn eine wundersame Kraft der mentalen Wiederherstellung und der geistigen Entfaltung entwickelt, wenn Sie dafür Sorge tragen, dass es sich gelegentlich von der äußere Reizwelt entkoppeln darf. Eine echte geistige Pause ist daher vorzugsweise offline.
Nixen statt Chillen
Pausen müssen natürlich nicht immer konsumfrei sein, damit wir mal durchatmen können oder Abstand zum stressigen Alltag gewinnen. Entspannung kann auch digital stattfinden: Ein lustiges Video oder eine Unterhaltung am Telefon können uns zum Lachen bringen, wenn wir gerade schlecht drauf sind oder uns ablenken und vom Stress distanzieren.
Wenn wir aber unser Gehirn mal wirklich zur Ruhe bringen wollen, ist es sinnvoller, den Medienkonsum und das Trommelfeuer an Informationen zu reduzieren. Wenn wir also im wahrsten Sinne des Wortes „abschalten“.
Neurowissenschaftler nennen diesen Zustand „Perceptual Decoupling“, was so viel heißt wie Entkopplung. Die digitale Nabelschnur wird also durchtrennt und die äußere Quelle der Informationen versiegt. Stattdessen gleiten wir Innenwelten ab. Wir träumen wir vor uns hin, und unsere Gedanken gehen auf Wanderschaft. Wir halten an nichts Bestimmten fest und lassen uns stattdessen gedanklich treiben. Es ist ein Zustand echter Zerstreuung.
Umgangssprachlich gibt es hierfür den Begriff „Nixen“ (eigentlich aus dem Holländischen „Niksen“), also im Sinne von „geistig nichts tun“. Nixen ist der willentlich herbeigeführte Zustand geistigen Nichtstuns ohne Denk- und informationellen Konsumzwang. Nixen ist übrigens nicht Chillen. Während man beim Chillen nämlich bspw. in der Hängematte liegt und mit oder an seinem Handy spielt, ist Nixen bildschirmfrei. Mathematisch könnte man es in Form der folgenden Formel ausdrücken: Nixen = Chillen – Handy.
Die wundersame Kraft der digitalen Pause
Wenn wir uns ab und an von der Außenwelt entkoppeln, passieren im Gehirn sehr viele Dinge, die der Erholung und der Wiederherstellung unserer geistigen Leistungsfähigkeit dienen:
1. Die Wiederherstellung der Konzentration
Konzentration ist bekanntermaßen ein wahrer Energiefresser. Deswegen erschöpft sie im Alltag auch relativ schnell. Nach einer guten Stunde ist meist schon Schluss. Bei Kindern im Grundschulalter ist sie noch rascher aufgezehrt. Die gute Nachrichtet lautet: Konzentration verhält sich wie eine Art „Akku“, ist also wiederaufladbar. Während einer geistigen Pause fließt Energie zurück. Oft reichen bereits wenige Minuten, um anschließend wieder 1-2 Stunden konzentriert arbeiten zu können.
Entscheidend ist aber, dass wir während unserer Pause die Akkus nicht anderweitig beanspruchen. Wenn wir also bspw. bei einer Zigarettenpause am Vormittag auf dem Handy eine Flugreise buchen oder beim Mittagessen in der Kantine nebenher am Laptop arbeiten, zieht das Energie. Solche Aktivitäten sind deswegen streng genommen auch keine echten Pausen, sondern eine Weiterführung unserer geistigen Anspannung. Vielleicht kosten sie nicht so viel und kommen einem im unmittelbaren Moment nicht mal besonders anstrengend vor; aber sie verzögern den Ladevorgang während der Pause, so dass die Konzentration nicht vollständig regeneriert. Nur beim Nixen fließt sämtliche Energie während der Aufladung in unsere Konzentrations-Akkus und steht uns anschließend am Schreibtisch wieder zur Verfügung.
Tip: Machen Sie nach 60-90 Minuten geistiger Arbeit eine Ladepause. Je anspruchsvoller Ihre geistige Arbeit ist, desto wichtiger wird sie. Sie brauchen weder Steckdose noch Ladekabel, sondern einfach nur Ruhe! Bei den hohen Energiekosten heutzutage ist das doch mal eine gute Nachricht.
Besonders lange muss die Pause auch gar nicht sein: 10-15 Minuten sind bereits ausreichend; eine Dauer über 30 Minuten bringt kaum noch Zugewinn.
Und stecken Sie Ihr Handy weg. Es mag verlockend sein, die Pause mit Schlagzeilen, Terminen, Newsfeeds und dusseligen Katzenvideos zu füllen. Aber halten Sie dem Konsumimpuls Stand. Nixen Sie. Je besser Ihnen das gelingt, desto effektiver erholt sich Ihr Gehirn.
Aus dem gleichen Grund hilft übrigens auch ein kurzer Mittagsschlaf. Zahlreiche Studien konnten belegen, dass Probanden am Nachmittag viel konzentrierter arbeiteten, wenn sie sich mittags 20min aufs Ohr legten. Der Schlaf ist nämlich die höchste Form der Entkopplung von der Außenwelt.
2. Die Geburt neuer Ideen
Beim Nixen bekommt unser Gehirn endlich die Chance, die zuvor aufgenommenen Informationen zu sortieren, zu ordnen und zu verknüpfen. Salopp gesagt, unser Oberstübchen räumt auf. Wesentlich dabei ist, dass es Bezüge herstellt zwischen den verschiedenen Informationen, es „assoziiert“.
Und das Ergebnis dieser Assoziationen sind frische Ideen, neue Perspektiven, Lösungen für aktuelle Probleme oder Pläne für die Zukunft. Im Gehirn existieren sogar spezielle Zentren, die für solche Assoziationen zuständig sind, bspw. das sog. „Default Mode Network (DMN)“. Je stärker wir geistig zur Ruhe kommen, desto aktiver wird es. Sie alle kennen das aus dem Alltag: In Ruhe und Abgeschiedenheit bringt Ihr Gehirn ganz unvermittelt und plötzlich Einfälle hervor.
Aber Achtung, auch hier gilt: Nur geistige Ruhe schafft die Grundlage hierfür. Beim medialen Dauerkonsum stellen die kreativen Hirnzentren ihre Dienste weitgehend ein. Das Gehirn beschäftigt sich dann mehr mit der äußeren Welt, statt mit der internen Verarbeitung. Wenn wir uns aber von der Welt entkoppeln, laufen die Zentren auf Hochtouren. Je monotoner und reizärmer die Umgebung ist, desto mehr kann das Gehirn „in sich spazieren gehen“, wie es ein berühmter Neurobiologe einmal ausdrückte. Das geniale an der Sache: Das Gehirn assoziiert ganz von selbst und findet Ideen und Lösungen für uns. Nur für die gelegentliche Ruhe müssen wir hin und wieder sorgen.
Tip: Wenn Sie das nächste Mal an einem Vormittag im Büro oder im Homeoffice geistig in einem Problem feststecken, weil Ihnen keine Lösung einfällt, machen Sie eine Pause, bei der Sie nixen. Gehen Sie ein paar Minuten raus, und lassen Sie Ihren Beinen und Ihren Gedanken freien Lauf. Denken Sie dabei nicht angestrengt über das Problem nach, sondern lassen Sie locker, damit Ihr Gehirn im Hintergrund assoziieren. Je ruhiger die Umgebung, desto leichter geht das vonstatten. Die Fußgängerzone ist also vielleicht nicht der richtige Ort; vielleicht aber die etwas abseitsstehende Bank im Park.
Einen genialen Einfall kann ich Ihnen zwar nicht versprechen, aber ich kann Ihnen versichern, dass es die beste Voraussetzung hierfür ist. Wenn Ihnen eine Idee in den Sinn kommt, schreiben Sie sie auf. Wenn nicht, macht das auch nichts. Denn manchmal produziert Ihr Gehirn während einer Pause auch ganz unbewusst brauchbare Lösungen, die Ihnen erst später in den Sinn kommen. Kehren Sie also erst mal ganz entspannt an Ihren Schreibtisch zurück, und gehen Sie das Problem nochmal an. Hat die Pause etwas ins Rollen gebracht? Sie werden überrascht sein, was kurze Phasen des Nixens in Gang setzen können.
3. Die Verbesserung des Gedächtnisses
Neben der Energieladefunktion und der Ideenfindung hat eine Offline-Pause auch für unser Gedächtnis eine enorme Bedeutung. Wir speichern deutlich besser, was wir vorher an Informationen aufgenommen oder gelernt haben, wenn wir uns in einer kurzen Pause mal kurz von allem zurückziehen und entkoppeln.
Das Experiment einer amerikanischen Arbeitsgruppe in Maryland hat dies eindrucksvoll bestätigen können: Die Probanden der Studie sollten lernen, bestimmte Zahlenreihen mit dem Finger auf einer Tastatur zu tippen. Im Laufe der Übungen wurden sie dabei immer schneller. Interessant war, dass sie sich aber nicht während der Fingerübung verbesserten, sondern immer, nachdem sie eine kurze Pause gemacht hatten. Also schauten die Forscher in die Gehirne der Probanden, um zu erfahren, was da während der Pausen vor sich ging. Hierfür verwendeten sie eine sog. Magnetenzephalographie, bei der man sich die Magnetfelder anschaut, die während der neuronalen Aktivität im Gehirn entstehen. Der erstaunliche Befund: Während dem Nixen zeigten sich die gleichen Aktivitätsmuster wie beim Üben, allerdings 3x so häufig und 20x so schnell. Das Gehirn spielte die Fingerübung in der Pause nach dem Üben also mehrmals durch. Das ist die berühmte sog. Replay-Funktion des Gehirns. Auf diese Weise trug also eine Pause ganz unbemerkt zum effektiven Lernen bei. Pausen ersetzen natürlich nicht das Lernen in der Zeit davor, völlig klar. Aber sie ermöglichen eine anschließende optimale Verarbeitung im Gehirn danach. Kurze Lernpausen boostern also unser Gedächtnis.
Auch für die Replay Funktion ist ein Konsumverzicht während der Pause sinnvoll, die Verarbeitung gelingt dann besser. Wenn wir unseren Kopf dagegen ständig mit lauter neuen Informationen füllen, kann unser Gehirn das Gelernte weniger gut festigen – und es bleibt weniger hängen. Dann behandeln wir unser Gehirn ein bisschen wie ein Tablet: Die Information ploppt kurz auf, aber wir wissen sie mit einer raschen Handbewegung schnell wieder aus unserem Bewusstsein.
Tip: Machen Sie eine kurze geistige Pause, wenn Sie gerade Wissen getankt haben, bspw. weil Sie für eine Prüfung gelernt, oder weil Sie einen interessanten Zeitungsartikel gelesen haben. Nixen Sie. Dann spielt Ihr Gehirn die Information im Hintergrund durch und verknüpft sie mit Ihrem Erfahrungswissen. Es kann übrigens auch nicht schaden, während einer solchen Pause noch einmal über das soeben Gelernte noch mal nachzudenken: Was habe ich gerade gelesen? Wie bewerte ich das? Was nehme ich für mich mit? Dadurch aktualisieren Sie den Inhalt und er gräbt sich tiefer in Ihr Gedächtnis.
Schalten Sie mal ab
Ich hoffe, die drei Gründe für eine geistige Pause konnten Sie überzeugen. Legen Sie Ihr Handy währenddessen weit weg oder knipsen Sie es aus, trotz der innigen und berührungsreichen Liebesbeziehung. Bei manchen Smartphones sind die Ausschalter mittlerweile ein bisschen versteckt, aber die meisten haben sie noch.
Deaktivieren ist nämlich leichter als Ignorieren. Wenn es die ganze Zeit unmittelbar neben ihnen vibriert, bimmelt oder rülpst, wird es schwer enthaltsam zu bleiben. Erst wenn es in der Pause gar nicht erst verfügbar ist, können Sie sich auch vor impulsiver Zuwendung einigermaßen gut schützen. Wenn Sie gerade eine Diät machen, legen Sie ja auch keinen Schokoriegel direkt vor Ihre Nase und hoffen auf genügend innere Stärke zu widerstehen, sondern Sie räumen ihn außer Sichtweise oder kaufen ihn gar nicht erst ein. So ist es auch mit den digitalen Verführungen.
Bitte nicht falsch verstehen: Wenn ich über den Wert und die Kraft der Gehirnpause spreche, geht es mir nicht darum fortan digital enthaltsam zu leben, sondern lediglich darum, in einer immer lauter und voller werdenden Welt Kopffreiräume zu bewahren, in denen Sie sich geistig erholen und wieder Kraft tanken. Denn verbrauchte Konzentration können Sie mit keiner App herstellen, und fehlende Kreativität können Sie sich auch nicht irgendwo herunterladen. Diese Fähigkeiten entfalten sich in Auszeiten, die Sie Ihrem Gehirn schenken.
Machen wir uns klar: Digitale Pausen sind wahre Alleskönner: Sie sind Konzentrations-Wiederhersteller, geistige Erfrischer, Ideen-Geber und Lernförderer. Sie sind somit alles andere als vertane Zeit. Sie sind äußerst konstruktive Momente. Aus ihnen entsteht immer etwas. Ich halte es für einen großes Versäumnis, geistige Leerlaufphasen immer weiter aus dem Leben zu verdrängen, nur weil sie sich im ersten Moment vielleicht langweilig anfühlen, oder weil sie uns nicht effizient genug erscheinen. In Wahrheit sind sie geistig die produktivsten Momente, die wir haben. Wenn wir sie zulassen.
Ihre Sendepause
Wenn ich einen Vortrag zu digitalen Pausen halte, zeige ich meinen Zuschauern am Schluss gerne das „Testbild“, das vor vielen Jahren auf den öffentlichen Fernsehsendern etwa um Mitternacht ausgestrahlt wurde. Erinnern Sie sich? Der in Fernsehstarre gefallene Zuschauer wurde auf diese Weise subtil aufgefordert die Kiste endlich auszuschalten und ins Bett zu gehen. Selbst eingefleischte Hardcore TV-Gucker drückten irgendwann den Aus-Schalter, denn das Testbild war noch langweiliger als Inspector Barnaby. Und außerdem wurde es begleitet durch ein echt unangenehmes akustisches Pfeifen. Autsch! Wer keinen Tinnitus bekommen wollte, musste zwangsläufig abschalten.
Mittlerweile gibt es das Testbild nicht mehr: Wir haben es getauscht gegen eine 24/7 Dauerberieselung, ergänzt durch die zahlreichen Streaming-Angebote und den bequemen Zugang zum Internet. Quasi eine Nonstop-Flatrate medialer Unterhaltung. Wir können heute immer und zu jeder Zeit anschauen, was wir wollen; unbestreitbar ein Zugewinn an freiheitlicher Selbstbestimmung, Aber das alles befreit uns nicht von der eigenverantwortlichen Frage, wie viel Konsum überhaupt gut für uns ist und was bei zu viel davon auf der Strecke bleibt: Wann habe ich meinem Gehirn genug zugemutet? Wann gönne ich ihm eine Pause? Wann schalte ich ab, statt nur um?
Das Testbild erinnert an etwas Wichtiges. Es steht als Bild für etwas, was auch für das Gehirn des modernen Menschen unverzichtbar ist. Es steht für die Entspannung nach der Anspannung, für das Aufräumen nach der chaotischen Reizflut, für die Ruhe nach dem Sturm – und vor dem nächsten. In der heutigen Zeit mögen wir auf das Testbild getrost verzichten können, nicht aber auf eine gelegentliche Sendepause in unserem Kopf…
Dieser leicht gekürzte Text ist auch als Podcastfolge mit dem Titel Öfter mal Offline in der Reihe Gehirn Gehört erschienen.