Teil 1/2
Eine schallende Ohrfeige
Auf der diesjährigen Oscarverleihung in Los Angeles verpasste der Schauspieler Will Smith dem Moderator Chris Rock eine schallende Ohrfeige, weil dieser sich über den krankheitsbedingten Haarausfall seiner Frau lustig gemacht hatte. Viel Verständnis brachte ihm die Öffentlichkeit nicht entgegen. Ein Shitstorm war die Folge, und Will wurde für 10 Jahre aus der Film-Academy ausgeschlossen. Kränkungen, die zu plötzlichen Gewalthandlungen führen, können oft mehr zerstören, als vorher kaputt war.
Lesen Sie im ersten Teil: Was passiert mit uns, wenn wir gekränkt werden? Wer ist besonders verletzlich? Und wie können wir selbst lernen, besser mit Enttäuschungen umzugehen?
Kränkungen gehen tief – und bleiben oft lange sitzen
Kränkungen bezeichnet man als Ohrfeigen für die Seele. Sie treten auf, wenn durch eine bestimmte Situation ein starkes inneres Bedürfnis, ein tief empfundener Wert, bedroht und verletzt wird. Kränkungen empfinden wir als Herabwürdigung unserer Person. Daher verfliegt die Emotion auch nicht so schnell.
Nichtsdestotrotz können Menschen Kränkungen im Alltag nach einer gewissen Zeit für gewöhnlich gut überwinden. Der Grund ist unser stabiles Selbst: Mit zunehmender emotionaler Reife wissen wir, wo unsere Stärken und Schwächen liegen. Daher bringen uns auch verletzende Kommentare allenfalls nur kurz aus dem Gleichgewicht. Im optimalen Fall bewältigen wir Bedrohungen von außen durch ein Sicherheitsgefühl von innen.
Deutlich belastender können Kränkungen für Menschen mit einer sog. Cluster B Persönlichkeit sein, also Menschen mit histrionischen oder narzisstischen Persönlichkeitsakzentuierungen, deren Selbstwertgefühl von der Bewunderung anderer abhängt. Hiermit bezeichnet man Menschen, die äußere Umweltreize, wie bspw. Temperatur oder Geräusche, aber auch Gefühle und Gedanken intensiver wahrnehmen. Das macht sie einerseits feinfühliger und genussfähiger, aber andererseits auch verletzbarer. Aber auch diese Menschen erholen sich in der Regel beizeiten und finden zurück ins Leben: Der Narzisst findet neue Bewunderer, und der Histrioniker kehrt auf seine Bühne zurück (nach ein paar Tränen im Backstage).
Die Folgen chronischer Kränkungen
Manchmal können die Folgen einer Kränkung jedoch deutlich schwerwiegender sein. Die Enttäuschung bleibt sitzen. Sie gärt im Inneren. Sie reift heimlich und still zu einem alles verschlingenden Gefühl heran. Die Kränkung wächst und wuchert wie Unkraut, der im schlimmsten Fall den Garten unserer Gefühle komplett überwuchert.
Entscheidend für eine solche Entwicklung ist die sog. Latenzphase, also die Tage und Wochen nach der erfolgten Kränkung. Wenn der Konflikt in dieser Phase nicht gelöst wird und keine echte Versöhnung erfolgt, können sich Gefühle von Zurückweisung, Frustration und Wut auf andere immer weiter verstärken.
Eine solche Entwicklung ist dann besorgniserregend, wenn die Kränkungen besonders in jungen Jahren ständig und wiederholt auftreten. Im schlimmsten Fall kann sich hierdurch sogar die Persönlichkeit selbst verändern. Die Psychodynamik ist dabei wie folgt: Neben die Enttäuschung und Verletzung über die aktuellen Kränkungen tritt die Angst vor neuen Kränkungen hinzu. Um diesen Spannungszustand irgendwie zu bewältigen, versuchen die Gekränkten ihr Selbst um jeden Preis zu schützen. Ein effektiver Schutzmechanismus ist dabei, es auf einen hohen Sockel zu stellen. Sie „lernen“ Ihr Selbst zu überhöhen, damit es nicht so leicht angegriffen werden kann. Macht- und Gewaltfantasien, aber auch größenwahnsinnige Ideen sind typisch für solche intrapsychischen Bewältigungsmechanismen.
Adolf Hitler bspw. war zutiefst gekränkt, dass er in jungen Jahren als Straßenmaler verhöhnt wurde und niemand Geld für seine Bilder ausgeben wollte. Er lebte lange Zeit in einer kleinen Wohnung unter für ihn unwürdigen Bedingungen. Sein Wert als großer Künstler Anerkennung zu finden, wurde wieder und wieder verletzt. Man vermutet, dass nicht zuletzt aus dieser Kränkung heraus die Fantasie eines tausendjährigen Reiches mit großen Ruhmeshallen und Denkmälern erwuchs, mit ihm an erster und höchster Position.
Auch die Pyromanie, also die Neigung ständig irgendwas abzufackeln, kann die Folge wiederholter Kränkungserfahrungen sein. Durch die Beherrschung der zerstörerischen Kraft des Feuers versuchen die Betroffene Macht wiederzuerlangen, die ihnen gefühlt verloren ging. Gerade Männer neigen oftmals zu diesem Verhalten. Chronisch gekränkte Frauen neigen dagegen nicht selten zur Kleptomanie, also dem zwanghaften Diebstahl. Auslöser sind wiederholte partnerschaftliche Verletzungen oder sexuelle Frustrationen. Die lesenden Ehemänner mögen dies als Appell verstehen sich künftig etwas mehr Mühe im Schlafzimmer zu geben – oder zumindest ihre Brieftaschen gut festzuhalten.
Unkrautvernichtung
Wir können lernen, im Alltag besser mit Verletzungen umzugehen. Besonders direkte Maßnahmen sind wertvoll, da sie die Entwicklung einer Frustration verhindern helfen. Oder, um noch mal die Gartensprache zu bemühen: Je frühzeitiger man das Unkraut der Kränkung entfernt, desto weniger ungestört kann es sich im Garten ausbreiten. Es braucht also ein paar effektiver Unkrautvernichter, die seine Ausbreitung eindämmen und das Wuchern verhindern (100% Bio, natürlich).
Gehen wir im Folgenden beispielhaft von einem Streit aus, einem bösen Kommentar oder einem üblen Witz auf Ihre Kosten, vielleicht in Ihrer Partnerschaft oder im Kollegium. Solche Situationen sind im Alltag recht häufig und eignen sich daher ganz gut, um die Akutmaßnahmen auszuprobieren:
- Unkrautvernichter Nr. 1: Wenn Sie eine Kränkung tief in sich spüren, gehen Sie erst einmal kurz vor die Tür. Atmen Sie durch und füllen Sie Ihren Brustkorb mit so viel Luft, wie es geht. Richten Sie sich dabei auf, schauen Sie nach vorne oben. Sie können sich auch recken und strecken. Wiederholen Sie die Bewegungen ein paar Mal. Diese sog. Körperöffnung ist deswegen wirksam, weil Sie das Zusammenziehen des Körpers verhindert und dafür sorgt, dass Sie nicht so leicht in eine missmutige Stimmung zusammensintern. Möglicherweise fällt ein Teil Ihrer Anspannung bereits in diesem Moment von Ihnen ab.
- Unkrautvernichter Nr. 2: Wenn Sie nach der Körperöffnung immer noch spüren, ouch – da hat Sie was getroffen, dann fragen Sie Ihren Partner oder den Kollegen, ob es überhaupt so gemeint war. Oft sind Dinge nämlich nur unglücklich formuliert worden oder man hat sie in den falschen Hals gekriegt. Vielleicht lohnt die ganze Aufregung ja gar nicht, weil es ein Missverständnis war. Glauben Sie mir, ein Großteil der Kränkungen in der Welt würde sich gar nicht entwickeln, wenn man den Kränkungs-Keimling bereits früh aus der Erde entfernen würde, bevor er ansetzt.
- Unkrautvernichter Nr. 3: Schieben Sie Ihren Kränkungsschmerz kurz zur Seite und überlegen Sie ganz ehrlich: Habe ich selbst vielleicht etwas dazu beigetragen, dass es gerade zu dem Verhalten kam, das mich so verletzt hat. War ich also vielleicht in irgendeiner Weise Mit-Täter? Stimmt vielleicht, was gerade über mich gesagt wurde? Gibt es einen wahren Kern? Durch diese Fragen kommen Sie aus der Opferrolle. Das ist mitunter zwar auch kein angenehmes Gefühl – aber es schmerzt bei weitem nicht so sehr. Und es weist einen Weg aus der Situation: Vielleicht könnten Sie sich genau dafür entschuldigen. Den ersten Schritt auf den anderen zuzugehen reduziert die Kränkung – auf beiden Seiten.
Intensive Gartenarbeit
Falls Sie sich öfter gekränkt fühlen, vielleicht sogar immer wieder durch die gleichen Dinge, dann reichen akute Unkrautvernichter allein nicht. Möglicherweise ist da ein ungünstiger Nährboden. Eine intensivere psychische Gartenarbeit kann dann sinnvoll sein.
- Stellen Sie sich mit etwas Abstand von der akuten Kränkung ein paar ehrliche und selbstkritische Fragen: Warum fühle ich mich immer wieder wegen der gleichen Sache verletzt? Was ist meine Achillesferse? Wozu könnte das Gefühl gut sein? Was sagt mir das? Was kann ich daraus lernen oder tatsächlich besser machen?
- Fragen Sie sich dann: Kann ich die sensible Stelle in Zukunft etwas schützen? Wie kann ich sie meiner Umwelt weniger „präsentieren“? Ebenso hilfreich kann die Frage sein: Kann ich die Sehne vielleicht stärken, damit ihr die Lanze der Enttäuschung nichts mehr anhaben kann?
In diesem Moment verwandeln Sie das Kränkungsgefühl in etwas Sinnhaftes. Die Energie, die im Schmerz ihre Ursache hat, wird umgeleitet in Richtung einer Lösung oder eine Idee für eine persönliche Entwicklung. Bei einer Kränkung gilt nämlich, wie bei jeder Erschütterung im Leben, die folgende Regel: Wenn wir unseren negativen Gefühlen etwas abgewinnen können, sei es ein Verstehen oder eine Bedeutung, vielleicht auch ein Ziel in Zukunft, schwächen wir sie merklich ab.
Zugegeben, möglicherweise bedarf es für hierfür eines Profis, der mit Ihnen auf die Suche nach Antworten auf solche Fragen geht. Wir selbst weichen ihnen nämlich ganz gerne aus und richten unsere Erwartungen lieber an unsere Mitmenschen als an uns. Unser Kränkungsschmerz zeigt mit dem Finger gerne auf andere statt auf uns selbst. Dennoch kann eine etwas intensivere psychische Gartenarbeit sinnvoll werden, wenn man einen resilienten Garten mit bunten Blumen und Blüten bewohnen möchte.
Sie sind nicht allein
Machen Sie sich klar, dass Sie nicht allein sind mit dem niederschmetternden Gefühl einer Kränkung. Jeder Mensch hat eine Achillesferse (meistens sogar zwei).
Es kann hilfreich sein, sich an eine Situation zu erinnern, in der Ihr Partner oder Ihr Kollege wegen einer Sache verletzt war, die man selbst nur für eine Kleinigkeit hielt. Diese Reflexion nennt man De-Zentrierung: Der Fokus geht weg von den ich-bezogenen negativen Gedanken, wie „Die Welt ist gegen mich“. Sich daran zu erinnern, dass auch Ihr Partner seine sensible Stelle hat und Kränkungen erlebt, stellt Verbundenheit mit ihm her. De-Zentrierung setzt uns in ein Boot. Sie schenkt uns die folgende Gewissheit: Wir haben alle unsere Werte und Bedürfnisse. Wir sind alle verletzlich. Und wir alle haben in unseren Gärten mit dem gleichen dämlichen Unkraut zu kämpfen.
Teil 2/2
Kränkungen entfesseln mitunter eine zerstörerische Kraft. Historiker bezeichnen Putins Angriffskrieg auf die Ukraine als Resultat einer tiefgreifenden politischen Enttäuschung und Demütigung, die vermutlich über viele Jahre heranwuchs, bis sie sich auf diese furchtbare und tragische Weise entlud.
Lesen Sie im zweiten Teil: Was führt dazu, dass Menschen unter bestimmten Umständen so stark verbittern können? Was ist die Psychodynamik hinter einer Kränkung, die dazu führt, dass Menschen sich und andere in den Abgrund reißen? Was können wir tun?
Hören Sie auch meine ausführliche Podcastfolge aus der Reihe Gehirn Gehört zu dem Thema.