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Die Kränkung: Eine Wurzel des Bösen

Teil 2/2

Eine zerstörerische Kraft

Eine Kränkung entfesselt mitunter zerstörerische Kraft. Historiker bezeichnen Putins Angriffskrieg auf die Ukraine als Resultat einer tiefgreifenden politischen Enttäuschung und Demütigung, die vermutlich über viele Jahre heranwuchs, bis sie sich auf diese furchtbare und tragische Weise entlud.

Lesen Sie in (diesem) zweiten Teil: Was führt dazu, dass Menschen unter bestimmten Umständen so stark verbittern können? Was ist die Psychodynamik hinter einer Kränkung, die dazu führt, dass Menschen sich und andere in den Abgrund reißen? Was können wir tun?

 

Die schlimmste aller Folgen ist Hass und Gewalt

Die schlimmste Entwicklung nach wiederholten Kränkungen ist die aggressive Verbitterung, ein chronischer Zustand gekennzeichnet von aufgestautem Zorn und gleichzeitiger Hilflosigkeit. Manchmal kann sich die ganze negative Energie in furchtbaren Gewalttaten entladen. Bei Amokläufern beobachten wir diesen selbstzerstörerischen Prozess häufig: Die tiefsitzende Kränkung versetzt die Betroffenen in einer Art anhaltender „Alarmmodus“, der körperlich und seelisch stark stresst. Die negativen Gefühle sind für Betroffene überwältigend. Aber sie bekommen keine gesunde Abfuhr, weil niemand da ist, der zuhört, versöhnlich in die Arme nimmt oder das Leid teilt und eine Tür öffnet. Die Folge ist der sog. Affektstau. Und genau der ist gefährlich. Denn auch wenn man äußerlich nichts sieht, schwelt der Konflikt in einem selbst weiter. Immanuel Kant sprach vom „Feuer, das unter der Asche glimmt“.

Irgendwann können solche angestauten Gefühle herausbrechen und sich auf aggressive Weise Bahn brechen. Man spricht von Affektumkehr. Es beginnt der verbitterte und hasserfüllter Kampf um Wiedergutmachung und Rache, koste es was es wolle. Die bittere Ironie daran ist, dass der eigentliche zugrundeliegende psychische Konflikt durch wütende Gewalthandlungen psychisch gar nicht aufgelöst wird. Denn Hass erfüllt nicht, er entleert. Die Täter vernichten meist auch sich selbst und stürzen nach einem Gewaltexzess in tiefe Krisen, völlig sinnentleert und innerlich zerstört.

In einer Novelle von Heinrich von Kleist aus dem Jahr 1810 verfällt der Pferdehändler Michael Kolhaas nach einem erlebten Unrecht in einen verbitterten Kampf um Wiedergutmachung, bei dem er am Schluss alles verliert: erst seine Pferde, dann seine Frau, schließlich seine Freiheit – und sein Leben. Herr Kolhaas ist sicherlich ein Extremfall. Und natürlich sind solche schwerwiegenden Taten meist auch Ausdruck einer psychisch vorbelasteten oder bereits im Vorfeld gestörten Persönlichkeit. Und dennoch zeigt die Geschichte, welche gravierenden Entwicklung eine Kränkung haben kann, wenn sich eine subjektiv schwere Verletzung in immer mehr Schmerz und Hass steigert.

 

Politische Kränkungen, die zu Katastrophen führen

Politische Gewalt kann ebenfalls die Folge einer tiefsitzenden Kränkung sein: Diktatoren, die sich gedemütigt und entwertet fühlen, können durch das verbitterte Streben nach Selbstbehauptung und Statuserhalt innerlich geradezu zerfressen werden. Sie sinnen auf die Demonstration ihrer Macht. Und irgendwann kommt eine günstige Situation, in dem die ganze negative Energie frei werden kann, es öffnet sich ein sog. Gelegenheitsraum. Die Mittel sind anfangs nur wüste Drohgebärden, später vielleicht Raketentests – und am Ende im schlimmsten Fall kriegerische Handlungen.

Einige Russlandkenner sprechen bei Wladimir Putin von einem seit Jahren bestehenden Demütigung-Syndrom, eine Kränkung darüber, dass der Verlust der territorialen Macht, die die Sowjetunion bis Anfang der 1990er Jahre besessen hatte, unwiederbringlich verloren ist. Der Zusammenbruch der Sowjetunion war eine einschneidende, katastrophale Erfahrung, verbunden mit der Enttäuschung von dem wirtschaftlich florierenden Westen nicht mehr ernst genommen zu werden.  Viele Menschen in Russland fühlten sich gedemütigt und entwertet

In einem kleineren und gewaltfreien Maßstab hat sich eine kollektive Kränkung auch in unserem Land abgespielt: Als 1989 die Mauer fiel und die DDR zur BRD wurde, bestimmten die Wessis nahezu vollständig das Leben der Ossis. Viele Ländereien gingen in westlichen Besitz über. Richter und Hochschullehrer verloren ihre Stelle und wurden ausgetauscht. Bei vielen Menschen kam es zu teils gravierenden biographischen Brüchen. Die Anzahl psychischer Störungen stieg in den Jahren nach der Wiedervereinigung kontinuierlich. Viele Soziologen gehen heute davon aus, dass das alles sehr kränkend gewirkt haben muss, und ggf. bis heute bei manchen Menschen in den neuen Bundesländern ein Gefühl von Aggressivität, Abkehr oder Hass gegenüber den staatlichen Institutionen auslöst.

Aber zurück nach Russland: Möglicherweise trägt auch hier das Gefühl der politischen Enttäuschung in Verbindung mit einem hohen Nationalstolz und einem fragilen Selbst psychologisch zu der Hemmungslosigkeit im Ukraine-Krieg bei, deren traurige Zeugen wir derzeit werden. Natürlich wissen wir nicht genau, ob Putins Vorgehen -neben strategischen Gründen- auch individualpsychologische Ursachen hat. Ich bin kein „Putinologe“, wie gerade so viele Experten, die sich zu seiner Psyche äußern. Ferndiagnosen sind immer schwer – und eigentlich verbieten sie sich aus ethischer Sicht. Für eine diagnostische Einschätzung wäre eine Couch hilfreich. Oder zumindest ein Gespräch an einem Tisch – vorzugsweise aber mit weniger als 8 Meter Sitzabstand.

 

Kein stabiles SELBST in einer Gesellschaft des ICH

Es ist unsere moralische Pflicht, politische Kränkungskonflikte zu lösen, BEVOR Katastrophen eintreten. Das ist aber aus psychologischer Sicht alles andere als einfach. Denn eine Kränkung anzusprechen, würde möglicherweise bedeuten, eine Schwäche einzugestehen. Wer will das schon? Gerade Männer haben damit nach wie vor oft ihre Schwierigkeiten. In der Politik sowieso.

Darüber hinaus ist die innere Stärke DIE herausragende Tugend unserer Zeit. Überall propagieren wir heutzutage, im Leben unbedingt stark und standhaft zu sein und sich durch nichts und niemanden von seinen Überzeugungen und Zielen abbringen zu lassen. In zahlreichen Motivationsseminaren ist ein zentraler Bestandteil: Mach dein „Ding“ und nimm keine Rücksicht auf Andersdenkende. Denn, so die Überzeugung, du musst es niemandem recht machen, außer dir selbst.

Viel Übungsfläche bleibt da nicht, in Situationen auch mal klein beizugeben und die eigenen Bedürfnisse ganz bewusst den Interessen anderer unterzuordnen, ohne dabei innerlich gleich zu zerbrechen. In einer Gesellschaft, die das ICH permanent so stark betont, wie wir es tun, fühlt es sich auch schnell bedroht, wenn es mal nicht im Mittelpunkt steht oder gebührend gewürdigt wird. Es ist der Narzissmus unserer Zeit, der uns eher schlecht erzieht im Umgang mit Kränkungen und Enttäuschungen.

 

Gartenpflege beim Nachbarn

Kränkungen lassen sich in vielen Fällen vermeiden. Seien wir respektvoll im Umgang mit unseren Mitmenschen, nicht nur mit denen, die wir lieben. Jeder Mensch ist auf seine Weise kostbar und verdient es nicht gedemütigt zu werden. Nicht umsonst heißt es, die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist möglicherweise das höchste Gut von allen. Den Partner oder Kollegen mit seinen Bedürfnissen anzunehmen ist dabei genauso wichtig, wie die Sensibilität, sein Wertesystem nicht zu verletzen, auch wenn es nicht das unsere ist. Und im Hinblick auf unser überzogenes ICH wären wir alle vermutlich gut beraten, unsere eigenen Bedürfnisse nicht immer in den Mittelpunkt unserer Wahrnehmung zu rücken. Wer sich selbst in bestimmten Situationen nicht so ernst nimmt und über sich lachen kann, macht sich auch unempfindlicher gegenüber Kränkungen.

Falls Sie jemand vor den Kopf gestoßen haben, bekommen Sie auch hier wieder ein paar Tipps, um die Kränkungsgefühl aufzulösen. Im ersten Teil sprach ich davon, dass man Unkraut vernichten muss, bevor es alles überwuchert. Sehen Sie die nachfolgenden Tipps also wieder als eine Art Unkrautvernichter. Nur wenden wir sie dieses Mal im Garten des Anderen an. Ähnlich wie bei den Tipps aus dem ersten Teil ist auch hier der Soforteffekt entscheidend. Das Ziel ist, die kritische Latenzphase kurz zu halten, in der sich Betroffene immer weiter in ihren Zorn und ihre Enttäuschung hineinschrauben. Bei Versöhnungen gilt: Am besten wirkt, was sehr früh erfolgt.

Tun wir im Folgenden ebenfalls wieder so, als ginge es um Ihren Partner oder einen Bekannten (Falls Sie dagegen häufiger Ihren Briefträger oder Heizungsmonteur kränken, müssen Sie die Punkte ggf. etwas abwandeln):

  • Unkrautvernichter Nr.1: Falls Sie das Gefühl haben, eine klitzekleine Mitschuld an der Eskalation eines Streits gehabt zu haben: Entschuldigen Sie sich, und zwar möglichst früh! Übernehmen Sie Verantwortung für den Teil, den Sie verbockt haben, in dem Sie gestehen: Ja, (auch) ich habe hier Mist gebaut. Kaum etwas kann das ungebremste Wachstum von Kränkungskraut so wirksam unterbrechen wie eine echte und aufrichtige Entschuldigung.
  • Unkrautvernichter Nr. 2: Erklären Sie, warum Sie so reagiert haben, was Sie angetrieben hat oder wovor Sie selbst vielleicht in diesem Moment Angst hatten. In diesem Moment signalisieren Sie dem anderen, dass Sie selbst über eine Achillesferse verfügen, die Sie schützen wollten. Das ist überaus effektiv, weil Sie sich in diesem Moment solidarisieren mit ihrem Partner und ihn aus seiner gefühlten Isolation holen.
  • Unkrautvernichter Nr. 3: Umarmen Sie Ihren Partner. Das ist ernst gemeint! Nichts ist heilsamer gegen seelische Wunden wie eine körperliche Berührung, zumindest wenn sie liebevoll gemeint ist und Ihr Bedürfnis danach für den anderen auch spürbar wird. Im hochakuten Moment mag das nicht gelingen, aber vielleicht mit etwas zeitlichem Abstand. Gerade nach einer Kränkung ist die Berührung bzw. Umarmung eine besonders intime Art zu sagen: Auch wenn ich dich soeben verletzt habe, du bist WERTvoll. Ich gebe dir, was sonst niemand bekommt. Und ich möchte dir auf diese Weise zeigen: DU bist etwas Besonderes, auch wenn wir unterschiedlicher Meinung waren/sind.

 

Reagieren wir besonnen – und versöhnlich

Für eine unmittelbare Versöhnung mit Putin ist es angesichts der furchtbaren Gräueltaten an der ukrainischen Bevölkerung zu spät. Wir dürfen hoffen, dass der Krieg durch den politischen Druck Europas und der USA bald zu Ende geht und sich die Hasardeure strafrechtlich verantworten müssen.

Und dennoch sollten wir im Anschluss an den Krieg besonnen handeln. Selbstverständlich wird der Wiederaufbau der Ukraine und die Hilfe für die vielen betroffenen Menschen vor Ort an erster Stelle stehen. Aber vielleicht besteht mit einer neuen Regierung in Russland in Zukunft auch die Chance die Beziehung neu zu prüfen in gegenseitigem Respekt und Wohlwollen zu gestalten. Wann auch immer der richtige Zeitpunkt dafür kommen wird, man wird politische Kränkungen überwinden müssen, und zwar bei allen Beteiligten.

Der russischen Bevölkerung gegenüber, die nichts kann für die Verbrechen ihres Präsidenten, und die großteils selbst für Frieden auf die Straße geht, sollten wir versöhnlich begegnen, statt reflexhaft sämtliche russische Kultur zu boykottieren oder das Volk als Ganzes zu diffamieren. Lassen Sie uns nicht wieder in eine kalte Verbitterung verfallen, wie es nach dem 2. WK für fast 50 Jahre lang der Fall war.

 

Die Fortsetzung der Geschichte

Sowohl Deutsche als auch Russen lesen bekanntlich die Bibel. Vielleicht lohnt es sich noch einmal hineinzuschauen, denn die christliche Menschheitsgeschichte gibt bereits auf den ersten Seiten Zeugnis davon, dass auch ein schwerer Sündenfall eine Chance für einen Neuanfang beinhalten kann: Nachdem der gekränkte Kain seinen Bruder Abel in Eifersucht erschlägt, tötet Gott ihn nicht in blinder Wut, sondern schickt ihn weg, um Buße zu tun. Kain fängt neu an. Er lässt sich im Osten Edens nieder, gründete eine Familie, und baut eine neue Stadt. Ganz leise und zart enthält die Geschichte damit eine Botschaft, die uns in diesen bedrückenden Zeiten einen Weg weist: Eine Gräueltat, die mit einer Kränkung begann, muss nicht in rachsüchtiger Raserei enden.

In den Geschichtsbüchern der Zukunft wird stehen, was wir jetzt hineinschreiben.

 

 

Teil 1/2

Lesen Sie im ersten Teil: Was passiert mit uns, wenn wir gekränkt werden? Wer ist besonders verletzlich? Und wie können wir selbst lernen, besser mit Enttäuschungen umzugehen?

Hören Sie auch meine ausführliche Podcastfolge aus der Reihe Gehirn Gehört zu dem Thema.

 

Beitragsbild KOPFSACHE - Die Kränkung: Eine Wurzel des Bösen (2/2)

Kopfsache – Die Kränkung: Eine Wurzel des Bösen

 

Es wäre mir eine große Ehre und Freude, wenn ich Sie künftig mitnehmen dürfte auf meine Reise durch die Welt von Geist und Gehirn.

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