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Kopfsachen – Die Kraft der Anteilnahme

Das kollektive Mitgefühl

Der Krieg in der Ukraine erfüllt uns aktuell mit Gefühlen von Traurigkeit, Angst, Enttäuschung, Wut und mit einer liebevollen Anteilnahme, die zu einer immensen Hilfsbereitschaft und einer großen politischen Solidarität der Länder Europas geführt hat. Kaum einer kann sich derzeit dem kollektiven Mitgefühl für die Menschen vor Ort entziehen.  Der Mensch hat die Fähigkeit, sich emotional anstecken zu können. Man spricht von affect contagion.

Eine emotionale Ansteckung gelingt schnell, oftmals automatisch und gänzlich unbewusst: Sie sitzen im Bus und beobachten, wie zwei Personen ein paar Sitzreihen entfernt miteinander lachen. Unwillkürlich lächeln Sie mit. Sie haben die beiden Spaßvögel auf die Entfernung akustisch gar nicht richtig hören können, übernehmen aber für einen kurzen Moment ihre positive Stimmung. Daher auch die Redensart: Lachen steckt an. Da nützt auch keine Maske. Umgekehrt lassen wir uns auch von negativen Gefühlen anstecken. Wir weinen mit anderen, wenn sie traurig sind, oder lassen uns durch ihre Nervosität mitreißen, indem wir uns plötzlich ebenfalls hektisch und unruhig fühlen. In den allermeisten Fällen kennen wir die Gründe für die Gefühle gar nicht. Ansteckung braucht kein tieferes Verstehen, sie passiert einfach.

 

Auf einer gemeinsamen Wellenlänge

Menschen, die sich emotional annähern, schwingen neurophysiologisch in bestimmten Netzwerken ihres Gehirns miteinander. Die elektrischen Frequenzen werden sich zunehmend ähnlicher und gleichen sich einander an. Um das meinen Studenten zu erklären, nutze ich gerne ein kleines Experiment mit zwei Stimmgabeln, wie Sie sie vom Stimmen eines Musikinstruments kennen. Wenn ich eine der beiden Stimmgabeln fest anstoße und sie in die Nähe einer baugleichen Stimmgabel bringe, schwingt diese mit. Auf einmal hören Sie beide Gabeln in der entsprechenden Frequenz vor sich hin tönen. Die eine wird quasi durch die andere angesteckt. Durch dieses Mitschwingen „auf einer Wellenlänge“ genießen wir gemeinsam die ausgelassene Stimmung eines Volksfests, wir fiebern zusammen für eine Fußballmannschaft im Stadion oder wir fühlen uns nahe beim gemeinsamen Trauergottesdienst auf einer Beerdigung.

Emotionale Ansteckung erfüllt eine wichtige soziale Funktion. Sie ermöglicht es uns Anteil an unseren Mitmenschen zu nehmen, ohne dass wir dafür verstehen müssen, worum es eigentlich geht. Es reicht, wenn wir die Gefühle unserer Mitmenschen ein Stück weit in uns selbst spüren und mit ihnen „teilen“. Echte Empathie hat damit übrigens herzlich wenig zu tun. Emotionale Ansteckung ist viel undifferenzierter als tiefes Einfühlungsvermögen. Nicht das emotionale und kognitive Verstehen, sondern die gemeinsame Wellenlänge ist es, die uns emotional verbindet und mitreißt.

 

Die zwei Seiten des Anteilnahme

Ansteckungsprozesse können enorme Energien freisetzen, die uns in Aufbruchsstimmung versetzen. Sie motivieren uns dazu, etwas zu tun, bspw. Menschen in einer Notlage zu helfen, so wie wir es in der aktuellen Situation im Krieg zwischen Russland und der Ukraine sehen. Viele Menschen helfen den Geflüchteten oder vor Ort gebliebenen und reichen ihre Hand.

Ein Zustand des permanenten Mitschwingens kann jedoch auch zu einer psychischen Belastung für uns selbst werden. Die Folge einer für jeden und alles durchlässigen Seele ist, dass wir irgendwann emotional erschöpfen und abstumpfen. Wir werden gleichgültig, mitunter sogar zynisch. Einen solchen Prozess beobachtet man häufig bei Menschen mit Burnout, die nach anhaltendem Stress irgendwann affektiv verflachen, emotional kaum noch erregbar sind und manchmal regelrecht aggressiv auf Gefühle in Ihrer Umgebung reagieren.

 

Werden Sie trotz Ansteckung nicht krank

Um mitfühlen zu sein, aber psychisch stabil zu bleiben, können Ihnen ggf. folgende Tipps helfen:

  • Werden Sie aktiv: Bei starken negativen Gedanken und Gefühlen, die Sie unruhig machen und nicht schlafen lassen, hilft das beherzte Tun. Dann findet Ihre Angst einen sinnvollen Output und Sie verwandeln sie in sinnvolle Energie. In Bezug auf die Situation in der Ukraine können Sie sich bei kommunalen Trägern und Ortsvereinen erkundigen, ob und wie Sie helfen können. Bieten Sie ein Übernachtungsbett an, falls Sie die Möglichkeit dazu haben. Spenden Sie an eine vertrauensvolle Organisation. Auch unabhängig hiervon können Sie anderen Menschen in der Nachbarschaft helfen oder Ihren Mitmenschen etwas Gutes tun. Was immer Ihnen einfällt, grundsätzlich gilt: Aktives Handeln und Helfen ist ein machtvolles Instrument gegen Gefühle der Angst und der Hilflosigkeit.
  • Gönnen Sie sich geistig frische Luft: Kein Mensch kann und sollte ständig mitleiden oder mitschwingen. Sorgen Sie daher immer wieder für psychischen Ausgleich. Beschäftigen Sie sich also mit anderen, schönen Dingen. Lassen Sie die aktuellen belastenden Umstände nicht zum tagesfüllenden Lebensgefühl werden. Das macht sie nicht zu einem schlechten Menschen, sondern sorgt dafür, dass Sie sich psychisch erholen und dadurch schwingungs- und handlungsfähig bleiben. Auf diese Weise vermeiden Sie, dass die Ansteckung Sie krank macht.
  • Reduzieren Sie die Flut negativer Informationen: In der Medizin ist fast jede Wirkung eine Frage der Dosis. So ist es bei Informationen auch. Ein paar Informationen zu haben ist gut, weil wir wissen sollten, was in der Welt geschieht. Dadurch können wir Dinge einordnen und wir kommen auf Ideen, bspw. wie wir helfen können. Zu viele Informationen können sich jedoch schnell ins Gegenteil verkehren. Jede Schlagzeile aufzuschnappen, eine politische Talkshow nach der anderen zu konsumieren, oder ständig über Krieg und Terror nachzudenken, kann uns gefährlich abstumpfen. Was uns ständig und permanent erreicht, erreicht uns irgendwann nämlich überhaupt nicht mehr. Vermeiden Sie also eine Überdosis Schreckensnachrichten. Schalten Sie den Fernseher nicht nur um, sondern viel öfter auch mal ab.
  • Finden Sie ein Ventil: Informationen können belasten, wenn sie unentwegt im Kopf kreisen und unser Gehirn regelrecht verstopfen. Daher hilft es hilfreich, ein Ventil zu schaffen und Sie herauszulassen. Emotionen, die sich ausdrücken dürfen, sind meistens nicht mehr übermächtig. Sprechen Sie also über Ihre Ängste und Sorgen. Schreiben Sie Ihre Gefühle auf. Beten Sie, wenn Sie gläubig sind. Egal, ob Sie mit jemandem reden oder Dinge in ein Tagebuch notieren: Auf diese Weise ordnen Sie Ihre Gedanken und Gefühle und lassen Sie herausfließen. Für den Input sorgen die Medien. Für den Output müssen wir selbst Sorge tragen.
  • Gewinnen Sie eine gesunde Distanz: Wenn Sie emotional Anteil nehmen an einer Situation oder sich um einen Menschen kümmern, dem es schlecht geht, kann es passieren, dass Sie selbst emotional überwältigt werden. Dann treten Sie innerlich einen kleinen Schritt zurück, atmen Sie kurz durch, und erkennen Sie, dass die Gefühle des Anderen nicht Ihre sind und nicht Ihre unmittelbare Situation widerspiegeln. Das mag zunächst wenig mitfühlend wirken, aber tatsächlich macht Sie diese Erkenntnis nicht weniger einfühlsam, sondern gewährt Ihnen einen wichtigen Schutz. So können Sie Anteil nehmen, aber emotional eigenständig bleiben.

 

Mit Herz und Hirn

Nehmen Sie also weiterhin Anteil an dem Leid der Menschen in unserem europäischen Nachbarland. Und helfen Sie auf Ihre Weise, wenn Sie können. Aber lassen Sie sich nicht bedingungslos in jede Emotion hineinfallen. Treten Sie immer wieder ein Stück zurück, wenn Sie Ihre Gefühle zu überrollen drohen und gewinnen Sie einen gesunden Abstand. Ein kluger Verstand, der Ihre Gefühle in Schach hält, macht Sie nicht kalt und herzlos, sondern beschützt Sie.

Ein heißes Herz braucht einen kühlen Kopf…

 

 

Die ausführlichere Version können Sie auch als Podcast in der Reihe Gehirn Gehört hören:

Die Kraft der Anteilnahme, auch auf Itunes und Spotify.

 

 

Beitragsbild Kopfsachen Die Kraft der Anteilnahme

Beitragsbild Kopfsachen Die Kraft der Anteilnahme

Es wäre mir eine große Ehre und Freude, wenn ich Sie künftig mitnehmen dürfte auf meine Reise durch die Welt von Geist und Gehirn.

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