Unsere Körpertemperatur sinkt
Haben Sie heute früh schon Ihre Finger in den Mund Ihres Partners gesteckt, um seine orale Temperatur zu fühlen? Falls Sie dies im Rahmen einer experimentellen Zeitreihenmessung regelmäßig tun, ist Ihnen möglicherweise bereits aufgefallen, dass die allgemeine Körpertemperatur seit Jahren sinkt.
Die handelsüblichen 37°C hatte der deutsche Arzt Carl Wunderlich Mitte des 19. Jahrhunderts anhand von über 25.000 Leipziger Patienten gefunden. Seitdem galten seine Befunde als Maß für die mittlere Körperkerntemperatur eines Menschen. Re-Analysen unter 35.000 Briten fanden vor kurzem jedoch hiervon abweichend eine mittlere Körperkerntemperatur von nur 36.6°C [1]. Sind die Briten nach dem Austritt aus der EU einfach unterkühlt oder haben sich die mittleren Temperaturen tatsächlich verschoben?
Unlängst hat eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe der Stanford University das einmal untersucht [2]. Sie nutzten Temperaturmessungen aus drei großen Kohorten und Lebensaltern. Mit ein gingen 23.710 Veteranen der Union Army (Messjahre 1860-1940), 15.301 Personen des National Health and Nutrition Examination Survey (Messjahre 1971-1975), sowie 150.280 Probanden des Stanford Translational Research Integrated Database Environment (Messjahre 2007-2017).
Um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten und Störvariablen zu kontrollieren, wurden die Messungen nach Alter, Größe, Gewicht und in einigen Modellen auch nach Datum und Tageszeit angepasst. Selbst die Thermometrie, also der Wandel der Messmethodik über die Jahre, wurde für die Temperaturvergleiche berücksichtigt.
Das erstaunliche Ergebnis: Die durchschnittliche Körpertemperatur bei (amerikanischen) Männern und Frauen sinkt tatsächlich kontinuierlich um 0,03 ̊C pro Geburtsjahrzehnt!
Weniger Infektionen machen cool
Was ist der Grund hierfür? In einer Zeit, in der sich unsere Gemüter so schnell erhitzen, kann es am Temperament schon mal nicht liegen. Vermutlich liegt es eher an unserer (besseren) Gesundheit. Wunderlichs Messungen entstammten bekanntlich einer Zeit, als Tuberkulose und verschiedene venerische Erkrankungen hohe Prävalenzen in der Bevölkerung aufwiesen und meist mit hohem Fieber einhergingen. Schwere Infektionen brachten häufig Siechtum und Tod. Die allg. Lebenserwartung lag Mitte des 19. Jahrhundert unter 45 Jahren.
Heute haben wir dank des Fortschritts der modernen Medizin einen Großteil solcher schwerwiegenden Infektionen überwunden und erfreuen uns eines längeren Lebens. Die statistische Folge: Die mittlere Körperkerntemperatur sinkt.
Covid19 erinnert uns aktuell an die Verletzlichkeit und Empfindlichkeit unseres Organismus gegenüber unerwarteten Krankheitserregern. Wir dürfen (und sollten) wir jeden Tag glücklich schätzen, in welcher Zeit umfassender medizinischer Versorgung inklusive hoher Hygienestandards wir leben – und überleben.
Diese demütige Erkenntnis könnte die hoch gekochten Temperaturen in den hitzig geführten Corona-Diskussionen bereits merklich herunterkühlen, finden Sie nicht? Dankbarkeit unter den Menschen war immer schon ein effektiver (sozialer) Fiebersenker.
Bleiben Sie gesund…
Literatur/Quellen
- Obermeyer, Z., J.K. Samra, and S. Mullainathan, Individual differences in normal body temperature: longitudinal big data analysis of patient records. BMJ, 2017. 359: p. j5468.
- Protsiv, M., et al., Decreasing human body temperature in the United States since the industrial revolution. Elife, 2020. 9.