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Wie Sie Ihr Gedächtnis stärken im digitalen Alltag

Gedächtnis, lass nach?

Patient, 55 Jahre: „Herr Busch, ich habe Angst, ich könnte eine Demenz haben. Ich kann mir im Alltag manche Dinge nicht mehr gut merken. Namen und Zahlen sind schnell vergessen. Gesprächsinhalte der vielen Meetings und Online-Konferenzen sind schnell wieder weg. Erst recht kleinere Details. Je lauter und voller mein Tag ist, desto schwieriger fällt es mir, sich alles zu merken. Manchmal frage ich mich abends, was ich eigentlich den ganzen Tag gemacht habe. Früher war das kein Problem…“

Die Hälfte der 35-44-jährigen ist heute der Überzeugung, dass ihr Erinnerungsvermögen in den letzten Jahren nachgelassen habe, wie eine große Datenerhebung in Deutschland vorletztes Jahr zeigte [1]. Mit zunehmendem Alter nimmt der Prozentsatz zu.

Auch wenn unser Gedächtnis tatsächlich biologisch etwas nachlässt, wenn wir älter werden, ist der wahre Grund ein anderer: Die gefühlte Vergesslichkeit heutzutage entsteht durch das ZUVIEL in unserem Alltag. Die hohe Geschwindigkeit und Parallelität, mit der wir uns heute den Dingen in unserer Umgebung zuwenden, gräbt vergleichsweise nur oberflächliche Gedächtnisspuren. Wir lesen immer schneller, nehmen Informationen immer gleichzeitiger wahr, und nehmen uns in der Hektik kaum noch Zeit, um über das Gelesene oder Gehörte in Ruhe nachzudenken. Wenn wir uns wichtigen Informationen zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme aber nur „zwischen Tür und Angel“ zuwenden, kann unser Gehirn sie auch schlechter verarbeiten und ablegen.

Die meisten Gedächtnisprobleme entstehen bei der Reizaufnahme (!) und der unmittelbar direkt im Anschluss erfolgenden Reizverarbeitung (!). Ursächlich für die Alltagsschusseligkeit ist also in den allermeisten Fällen kein biologisch per se erkranktes Gedächtnissystem, sondern unsere oberflächliche Wahrnehmung und die Hektik, die keine Tiefe mehr zulässt. Menschen um 50 Jahre und älter könnten in den allermeisten Fällen noch ein fantastisches Gedächtnis haben, wenn Sie mehr Zeit bekämen (oder sich nehmen würden) sich den Gesprächen, die sie führen, den Artikeln, die sie lesen, oder den Vorträgen, denen sie zuhören, in Ruhe zuzuwenden. Und wenn sie im Anschluss Zeit finden würden, über die Dinge nachzudenken oder sich über sie mit anderen auszutauschen.

 

Unsere geteilte Aufmerksamkeit halbiert die Erinnerung

Um diese Zusammenhänge zu verstehen, schauen wir gemeinsam kurz in unserem Arbeitsgedächtnis vorbei. Es liegt größtenteils im vorderen Hirnabschnitt. Manche Autoren bezeichnen es auch als Kurzzeitspeicher, denn hier können wir Informationen für eine kurze Zeitspanne festhalten und geistig bearbeiten.

Während die Informationen im AG kreisen, setzt sich unser Denkapparat mit ihnen auseinander. Sie werden geprüft, interpretiert, und sie werden mit unserem Vorwissen, unseren Erfahrungen und unseren Gefühlen verknüpft. Hier entscheidet sich auch, ob die Informationen danach überhaupt in Ihr Langzeitgedächtnis überführt oder gleich wieder gelöscht werden. Am Arbeitsgedächtnis führt kein Weg vorbei. Alles, was sie sich langfristig speichern möchten, muss zuerst hier durch. Leider ist dieser Ort das Nadelöhr unseres Gehirns. Hier vorne ist es „eng“ und es passt nicht alles durch.

Je bewusster wir uns nun einer Information zuwenden, desto sorgfältiger wird sie in unserem Arbeitsgedächtnis verarbeitet und desto höher ist die Chance anschließend ins Langzeitgedächtnis weitergereicht zu werden. Mehr Aufmerksamkeit schleust die Informationen also besser durch die Engstelle im Arbeitsgedächtnis.

Der amerikanische Schriftsteller Samuel Johnson sagte einmal: „Die wahre Kunst der Erinnerung besteht in der Kunst der Aufmerksamkeit.“

 

Ein besseres Nadelöhrmanagement für Sie!

Die nachfolgenden Tipps zielen auf ein besseres Management der Reizaufnahme und -verarbeitung in Ihrem Arbeitsgedächtnis ab. Sie sind effektiv und wissenschaftlich hochevident. Mit ihnen können Sie Ihr Gedächtnis auf eine natürliche Weise stärken.

Probieren Sie sie aus, ziehen Sie am Ende des Tages ein ehrliches Resümee. Und wenn Sie Ihnen guttun, führen Sie sie nach und nach in ihren Alltag ein.

 

1 Schaffen Sie Platz

An einem normalen Tag spülen wir heute Unmengen an Daten in unser Arbeitsgedächtnis. Man geht davon aus, dass wir durch das Lesen einer Tageszeitung heute mehr Informationen aufnehmen, als ein einfacher Bauer im 17.JH im ganzen Leben bekam. Und die Tendenz ist weiter steigend. Jedes Jahr nimmt der Konsum aktuell um mehr als 2.5% zu. Natürlich löschen wir das meiste davon wieder, bspw. wenn wir schlafen. Aber wenn wir unser Arbeitsgedächtnis am Tag unentwegt vollmüllen mit Informationen, sind wir kaum noch aufnahmefähig, wenn es mal drauf ankommt.

Wenn Sie nun eine neue, wichtige Information aufnehmen wollen, schmeißen Sie daher erst mal alles raus, was noch im Kurzzeitspeicher herumhängt und gerade nicht wirklich wichtig ist. Schieben Sie störende Gedanken auf die Seite und kommen Sie innerlich zur Ruhe. Denken Sie dabei an nichts Bestimmtes, lassen Sie gedanklich ganz los. Alle Dinge, denen Sie sich im Anschluss zuwenden, werden viel sorgfältiger verarbeitet – und im Nachhinein auch besser erinnert.

Sehr wirksam sind kurze Meditationsübungen. Es reichen aber auch ein paar tiefe Atemzüge über den Bauch. Je langsamer die Atemfrequenz, desto größer ist der Effekt. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass Sie kreisende Gedanken oder Gefühlsfetzen kurz notieren und auf diese Weise „herausschreiben“. Dann kreisen sie nicht mehr störend im Arbeitsgedächtnis und Sie bekommen ebenfalls wieder Platz.

Sie brauchen keine Angst haben, bei all diesen Entleerungsformen löschen Sie nicht Ihren Langzeitspeicher (Sie finden also auch abends noch nach Hause und legen sich ins richtige Bett). Aber Sie misten ihren Arbeitsspeicher aus. Und anschließend sind Sie auch wieder aufnahmefähiger, egal ob Sie für eine Prüfung lernen oder geistig einem Meeting folgen möchten.

 

2 Schauen Sie richtig hin

Wenn wir unsere Umwelt bewusst wahrnehmen und unsere Mitmenschen genau beobachten, hinterlassen unsere Sinneseindrücke viel tiefere Erinnerungsspuren, als wenn wir die ganze Zeit digital zerstreut auf unser Handy blicken oder anderweitig abgelenkt sind.

Wenn wir bspw. durch eine Stadt laufen, während wir dabei telefonieren, prägen wir uns die Gebäude und Straßenecken weniger sorgfältig ein. Dadurch gelingt uns die Orientierung in der Stadt beim nächsten Besuch wahrscheinlich schlechter, denn wir haben uns kaum etwas gemerkt.

Eigentlich eine völlig banale Alltagserfahrung. Und dennoch kann man diesen Aspekt gar nicht genug betonen, denn heutzutage kriegen wir im Straßenverkehr, am Schreibtisch, oder beim Spaziergang durch die Stadt viel weniger mit, weil wir unsere Sinne nicht mehr allein auf unsere Umgebung fokussieren, sondern zum einem mindestens ebenso großen Teil unserem Smartphone oder digitalem Medienkonsum schenken.

Beobachten Sie Ihre Umwelt daher präzise, wenn Sie Ihr Gedächtnis verbessern möchten. Die Straßenbahnhaltestelle wäre ein guter Anfang. Oder das Café, falls sich Ihr Partner verspätet. Greifen Sie in solchen Momenten nicht reflexhaft nach dem Handy, sondern lassen Sie Ihren Blick für ein paar Minuten in Ihre Umgebung schweifen. Denken Sie über das nach, was Sie sehen. Prägen Sie sich ein paar Details ein. Das koppelt Ihre Wahrnehmung mit Ihrem Arbeitsgedächtnis und stärkt Ihr Denken und Ihr Erinnern. Wer genau hinschaut, blickt später besser durch.

 

3 Lassen Sie sich mehr Zeit

Alles strebt heute nach höherer Geschwindigkeit. Wir arbeiten, reisen und kommunizieren immer schneller. Selbst WhatsApp-Nachrichten können Sie sich heute bereits in 2.0facher Geschwindigkeit anhören. Aber auch wenn es unzeitgemäß klingt: Unser Arbeitsgedächtnis funktioniert eindeutig besser, wenn es Zeit hat, sich mit Dingen in Ruhe zu beschäftigen.

Vielen meiner Patienten hilft es daher die Sinneswahrnehmung ein wenig zu verlangsamen und zu vertiefen, um ihr Gedächtnis zu stärken. Lesen Sie bspw. die Tageszeitung künftig einfach etwas langsamer, wenn Sie sich die Artikel besser merken wollen. Und falls Sie beim Frühstück nur wenig Zeit haben, lesen Sie eben nur 3 Artikel, statt die ganze Zeitung zu überfliegen. Besser ein paar wenige gute Gedanken, an die Sie sich erinnern, als riesige Menge an Informationen, die allenfalls in Fetzen hängen bleibt.

Sie können den Effekt übrigens noch verstärken, indem Sie währenddessen immer wieder kurze Pausen machen, damit das gerade Gelesene oder Gehörte sacken kann. Denken Sie kurz über das nach, was Sie aufgenommen haben. In diesem Augenblick misst unser Gehirn den Informationen nämlich mehr Bedeutung zu – und speichert sie nachfolgend auch besser. Das ist in zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten immer wieder nachgewiesen worden: So sollten in einer britischen Studie Probanden Texte im Internet lesen, zu deren Inhalt sie anschließend befragt wurden. Es zeigte sich, dass das Textverständnis am besten war, wenn sich die Probanden zwischen zwei Texten etwas Zeit ließen, um über das Gelesene nachzudenken [2].

Wenn Sie bspw. einen wichtigen Artikel gelesen haben, legen Sie danach die Zeitschrift kurz beiseite, bevor Sie sich Ihren Emails zuwenden. Schauen Sie kurz aus dem Fenster und denken Sie über den Inhalt nach: Was habe ich gerade gelesen? Was bedeutet das für mich? Was möchte ich mir merken? Hierdurch bekommen die kreisenden Informationen mehr Zuwendung und werden anschließend auch eher im Langzeitgedächtnis verankert.

 

4 Löschen Sie Störfeuer

Ein weiteres gravierendes Problem für das geistige Durchdringen von Informationen heute ist die permanente Störung während der Aufnahme. So sitzen wir in einem Zoom Meeting und schauen ständig in die Emails. Die Informationenkonkurrieren jetzt im Arbeitsgedächtnis miteinander und heben sich u.U. gegenseitig auf. Dass wir Reize viel schlechter verarbeiten, wenn wir abgelenkt sind, ließ sich in Experimenten vielfach nachweisen [3].

Im Alltag sollten Sie daher Störquellen weitgehend eliminieren, wenn Ihnen eine Information wichtig ist und Sie diese speichern möchten. Wenn Sie bspw. eine interessante Sendung schauen, tun Sie es ganz bewusst, und schalten Sie den berüchtigten zweiten Bildschirm auf ihrem Schoss aus, also das Handy oder das Tablet. Denn Sie werden viel tiefer in den Inhalt eintauchen und er wird Ihnen besser im Gedächtnis bleiben. Deswegen erinnern wir uns an den Inhalt eines Films ja meist auch besser, wenn wir ihn im Kino statt im Fernseher sehen. Denn im Kino gibt es keine Ablenkung, das heimische Wohnzimmer ist dagegen voll davon.

Eine Medienquelle zu ignorieren, während man eine andere genießt, mag sich zunächst wie ein schmerzlicher Verlust anfühlen. Aber der bewusste Verzicht an dieser Stelle ist der Schlüssel zu einem Gewinn an einer anderen: einem besseren Gedächtnis.

 

5 Machen Sie kleine Updates

Wenn Sie gerade etwas gelesen oder gehört haben, sagen Sie es sich geistig kurz noch einmal auf. Wiederholen Sie die Information. Zwei Minuten reichen hierfür völlig aus. Dann kreisen die Informationen länger durch das Vorderhirn und werden langfristig auch eher gespeichert. Den Vorgang solcher kurzen „Updates“ nennt man auch Re-aktualisierung.

Eigentlich kennen wir den Wiederholungseffekt beim Lernen noch von den Lateinvokabeln. Aber Hand aufs Hirn: Obwohl wir es wissen, nehmen wir uns im Alltag doch trotzdem kaum Zeit, Dinge noch einmal kurz zu wiederholen. Um die nächste Ecke warten schießlich bereits wieder die nächsten Informationen, die konsumiert werden wollen. Dann ist es jedoch kein Wunder, dass unsere Reizeindrücke nach ein paar Schleifen im Arbeitsgedächtnis unwiederbringlich verloren gehen.

Re-aktualisierungen funktionieren besonders gut, wenn sie akustisch hörbar stattfinden, wie eine Studie vor wenigen Jahren herausfand. In einem Experiment der Pennsylvania State University sollten sich Probanden verschiedene Worte merken. Ihre Merkfähigkeit war am besten, wenn die Studienteilnehmer die Begriffe nach dem Auswendiglernen kurz vor sich hingeplappert hatten [4]. Falls sich Menschen in Ihrer unmittelbaren Umgebung irritiert nach Ihnen umdrehen, während Sie vor sich hinreden, berufen Sie sich auf die Wissenschaft (oder rufen mich kurz an).

 

Seien Sie ganz da

Liebe Leserinnen und Leser, Sie sehen: Die Tiefe und die Präzision, mit der wir uns Informationen zuwenden, entscheidet oftmals viel stärker über unsere Gedächtnisfunktion als unser biologisches Alter. In einer digital zerstreuten, dauerabgelenkten und hektisch-nervösen Arbeitswelt sind die genannten Maßnahmen daher äußerst probate Mittel, um wieder mehr „Bewusstheit“ zurückzuerlangen und die Reizausbeute im Arbeitsgedächtnis zu erhöhen. Ein gutes Nadelöhrmanagement funktioniert in jedem Alter!

Mir fällt zum Abschluss ein schöner Satz von Eckhart Tolle ein, den ich Ihnen jetzt zum Abschied einfach mitten in Ihr Arbeitsgedächtnis stelle. Entscheiden Sie selbst, ob Sie ihn dort noch ein paar Runden kreisen lassen möchten, damit Sie sich später an ihn erinnern.

Der Satz beschreibt, was ein Kredo für uns alle sein sollte in einer Welt, die immer voller, oberflächlicher und zerstreuter wird: „Wo immer du bist, sei ganz dort…“

 

 

Sie finden das Thema -etwas ausführlicher- auch als Podcast auf dieser Seite

oder auf Itunes: https://podcasts.apple.com/de/podcast/gehirn-geh%C3%B6rt-dr-volker-busch/id1508018524?i=1000581396615

bzw. auf Spotify: https://open.spotify.com/episode/1M19kANn0XfWER7IsmlqXv?si=140554ed60bb4958

Literatur

  1. Schütz, H., et al., Prevalence and psychosocial correlates of subjectively perceived decline in five cognitive domains: Results from a populationbased cohort study in Germany. International Journal of Geriatric Psychiatry, 2020. 35(10): p. 1219-1227.
  2. Dyson, M. and M. Haselgrove, The effects of reading speed and reading patterns on the understanding of text read from screen. Journal of Research in Reading, 2000. 23(2): p. 210-223.
  3. Madore, K.P., et al., Memory failure predicted by attention lapsing and media multitasking. Nature, 2020. 587(7832): p. 87-91.
  4. McCormick-Huhn, J.M., C.R. Bowman, and N.A. Dennis, Repeated study of items with and without repeated context: aging effects on memory discriminability. Memory, 2018. 26(5): p. 603-609.

 

Weniger vergesslich im digitalen Alltag

Wie Sie Ihr Gedächtnis stärken können im digitalen Alltag

Es wäre mir eine große Ehre und Freude, wenn ich Sie künftig mitnehmen dürfte auf meine Reise durch die Welt von Geist und Gehirn.

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