Die ständige Frage nach dem Warum
Nicht nur das Geld verhält sich inflationär; manche Begriffe tun es auch. SINN scheint aktuell als die wahre (und einzige?) Motivation und Glückserfüllung für den erwerbstätigen Menschen des 21. Jahrhunderts zu sein. Die Arbeitsgesellschaft ist daher zurzeit auf Sinnsuche. Produkte, Dienstleistungen, Arbeitsabläufe sollen heute sinnvoll sein. Viele Unternehmen haben die Kerntätigkeit ihres Geschäfts auf ihren Webseiten mit hohen Dosen Bedeutsamkeit aufgeladen. Purpose dringt aus allen Poren zeitgemäßer Jobbeschreibungen. Dabei wird das Sinn-Konstrukt schnell zu einem Marketing-Instrument. Im Internet las ich neulich die Stellenanzeige eines Waffenhersteller, der seine Jobs mit „Verantwortung für die Gemeinschaft“ bewarb. Selbst eine uns allen bekannte amerikanische Kaffeekette motiviert ihre grottenschlecht bezahlten Mitarbeiter mit der Value-Mission: „To inspire and nuture the human spirit!“. Meine Güte…
Sinnstiftungsbemühungen dergestalt sind nicht nur zynisch, sie sind aus motivationaler Sicht auch falsch! Es ist für mich als Psychiater immer wieder erschreckend, wie wenig sich selbst ernannte New-Work Experten und Value-Finder mit den Grundbedürfnissen von Menschen auskennen.
Das Wie liegt uns meist näher
Natürlich verbinden sich Menschen emotional eher mit ihrer Tätigkeit, wenn sie gesellschaftlich bedeutsam ist. Aber dies ist keine Vorausbedingung für eine Zufriedenheit am Arbeitsplatz! Eine Altenpflegerin kann ihren -objektiv bedeutsamen- Job als völlig unerfüllend erleben, wenn sie nicht weiß, wie sie ihr Leben finanzieren soll. Und umgekehrt kann eine Mitarbeiterin ihre Tätigkeit in einem Chemieunternehmen, das mit bestimmten Produkten möglicherweise dem Welt-Klima schadet, sehr befriedigen, wenn das Büro-Klima im Unternehmen selbst als wertschätzend erlebt wird, oder wenn sie ihrer Rolle als Angestellte und als Mutter gerecht werden kann. Im Arbeitsprozess sind konkrete Alltagsfragen meist viel relevanter als hochtrabende Weltverbesserungsgedanken. Kurz: Das „Wie“ ist für die meisten Menschen viel lebensnäher als das „Warum“.
Tatsächlich hat SINN auch weniger mit Bedeutsamkeit zu tun als vielmehr mit einer stimmigen Richtung, in der wichtige Bedürfnisse des Lebens liegen. Das ist sogar im Begriff selbst enthalten: Sinn leitet sich nämlich von dem altdeutschen Wort „sinnan“ ab und bedeutet so viel wie „in eine Richtung streben“. Deswegen sagt man auch, dass sich Uhrzeiger auch im Uhrzeiger“sinn“ bewegen.
Und genau deswegen kann auch jemand, der „nur“ Kartons zusammenpackt, seine Arbeit als sinnvoll empfinden, wenn er sein Arbeits- und Privatleben so führen kann und darf, wie es seinen Wertvorstellungen oder Notwendigkeiten entspricht. Einen höheren Purpose braucht es hierfür nicht.
Hüten wir uns vor zu viel Purpose
Überstrapazieren wir den Begriff SINN also nicht durch eine allzu heroische Metaphorik, sondern begreifen wir ihn breiter. Menschen können motiviert sein, ohne überall gleich die Welt mit Ihrer Arbeit verbessern zu müssen, wenn die Arbeit sie nicht erdrückt sondern befähigt, ihr Leben kontrollieren zu können und es so leben zu dürfen, wie sie es sich wünschen. Selbst Kaffee ausschenken gelingt dann ohne Purpose.
Schenken wir unseren Mitarbeitern im Arbeitsalltag Verständnis für die verschiedenen Rollen in Ihrem Leben, geben wir ihnen Freiheiten diesen Rollen und Verpflichtungen gerecht werden zu können. In den meisten Fällen werden wir von Ihnen dafür Loyalität und das tiefe Gefühl von Verbundenheit zurückbekommen.
SINNvoller kann eine zeitgemäße Führung kaum sein.
Der Text ist ein Auszug aus meiner regelmäßigen Kolumne KOPFSACHEN für die Solutions/Creditreform aus der Handelsblatt Media Group
Weitere Texte der Kolumne finden Sie hier: https://creditreform-magazin.de/leben/gesundheit/so-ein-un-sinn/