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Vorsicht Modediagnosen – Über falsche Krankheitsmodelle aber echte Symptome

 Streitpunkt Modekrankheiten

Anlässlich eines Interviews, das ich jüngst für die Deutsche Welle zu aktuellen Modediagnosen in unserer Gesellschaft gab, möchte ich hier kurz ein paar Fakten und Mythen hierüber zusammenzustellen, um etwas Klarheit zu schaffen.

Modediagnosen erhitzen erfahrungsgemäß die Gemüter, wie das in unserer impulsiven Empörungskultur die Regel geworden ist. Möglicherweise ist dies auch nach der Veröffentlichung dieses Artikels der Fall. Dennoch halte ich den Diskurs für wichtig, da die allgemeine Verwirrung bei Modediagnosen groß scheint, obwohl sie gemeinhin als Phänomen seit mehreren hundert Jahren bekannt und beschrieben sind.

Lassen Sie uns daher einmal -ganz sachlich- auf ein paar typische Modekrankheiten schauen, ihre Geschichte und ihre Bedeutung verstehen, und Ihre Gefahren erkennen, vor denen wir Betroffene schützen sollten. Lesen Sie den Artikel bitte ganz zu Ende.

Typische Kriterien

Unter Modediagnosen versteht man zunächst einmal ganz allgemein bestimmte Befindlichkeitsstörungen und Krankheiten, die für eine begrenzte Zeit maximale mediale Aufmerksamkeit erhalten und dann wieder in der öffentlichen Bedeutungslosigkeit versinken.

Damit sind sie jedoch noch nicht ausreichend definiert. Denn wäre dies das einzige Kriterium, dann wären Hochbegabung, Elektrosensibilität, ADHS, Burnout genauso Modediagnosen, wie das derzeit allerorts beschriebene Long-Covid Syndrom. Aber dem ist nicht so! Es ist notwendig, genau zu differenzieren. Für klassische Modediagnosen gelten nämlich ein paar weitere Kriterien, an denen man sie erkennt bzw. ggf. auch von anderen Erkrankungen abgrenzen kann – und muss!

Obskure Entstehungstheorien

Die meisten Modediagnosen in der Historie beschreiben psychische Beschwerden, für die man vermeintlich organische oder toxische Ursachen verantwortlich machte. Viele Erklärungsmodelle bedienten sich hierfür griffiger Konzepte, die (medial) lautstark postuliert wurden, aber wissenschaftlich nicht fundiert waren.

Ein extremes Beispiel ist die Gebärmuttererstickung, die im 17. Jh. für Frauen mit Panikstörungen und Atemnot verantwortlich gemacht wurde. Ein umherwandernder Uterus war für viele betroffene entlastend, da es bedeutete, eine körperliche Ursache zu für die eigenen Beschwerden zu kennen und sich nicht psychisch stigmatisieren zu lassen. Dies hat sich bis heute nicht wesentlich geändert. Ein aktuelles Beispiel die Morgellon-Erkrankung, also die irrige Annahme, subjektive empfundene Gefühlstörungen unter der eigenen Haut seien krabbelnde winzig kleine Tierchen und Parasiten. Ein anderes Beispiel ist die Theorie der Chemtrails, nach der Kondensstreifen der Flugzeuge neben Wasserdampf und Abgasen (richtig) auch chemische Substanzen wie Aluminium enthielten (falsch), die für vorübergehende und unspezifische Symptome wie Kopfschmerzen, Erschöpfung oder Schlafstörungen verantwortlich seien.

Die Erklärungsmodelle sind für Betroffene sowie die allgemeine Bevölkerung leicht verstehbar und „akzeptabel“. Auf diese Weise werden auch falsche Entstehungstheorien lange aufrechterhalten, was eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Ursachen für die jeweiligen Beschwerden erschweren kann.

Orientierung am Zeitgeist

Typisch für Modediagnosen ist, dass sich die Probleme, Sorgen und Nöte der Menschen in dem jeweiligen Land und zur jeweiligen Zeit sich in den wahrgenommenen Symptomen und ihren medizinischen Erklärungsbemühungen widerspiegeln.

Allgemein bekannt und in dieser Hinsicht historisch gut erforscht ist die Neurasthenie, eine unspezifische Symptomenkonstellation aus Reizüberempfindlichkeit, Erschöpfung und Muskelschmerzen, die anfänglich vor allem bei Menschen der aristokratischen Oberschicht ab etwa 1870 gefunden wurde. Die Prävalenzen schossen innerhalb weniger Jahre so sehr in die Höhe, dass sie Ende des 19.Jh. praktisch an jeder Universität Europas und Amerikas als führende psychische Störungen des neuzeitlichen Menschen gelehrt wurde. Als Ursache der Beschwerden wurde die Erfindung der „Elektrizität“ und das zur Zeit der Industrialisierung allgemein gestiegene „Lebenstempo“ vermutet. Sogar unterdrückte (homo-)sexuelle Triebe wurden für die Symptome angeschuldigt – und entsprechend behandelt: Überall in Deutschland entstanden Kurkliniken mit elektrotherapeutischen Anwendungen und „Wasserdruckduschen“ für Becken und Geschlechtsorgane. Als 1914 dann der erste Weltkrieg ausbrach, verschwand die Erkrankung in kürzester Zeit aus dem Bewusstsein der Menschen. Weder Medien noch Patienten oder Ärzte interessierten sich noch für sie. Rückblickend weiß man heute, dass es bei der Neurasthenie in ihrer Ursprungsform um psychosomatische Beschwerden handelte, die sich fortan in Form anderer Störungsbilder und Diagnosen (bspw. die freudianische Hysterie zu Beginn der ersten Hälfte des 20.Jh) darstellten und auf diese Weise gesellschaftliche Akzeptanz fanden. In den 60er Jahren wurde die Neurasthenie schließlich aus sämtlichen europäischen Klassifikationstabellen medizinischer Krankheits- und Störungsbilder getilgt. Der Begriff ist seitdem praktisch ausgestorben. Die Beschwerden, unter denen Betroffene leiden, sind es jedoch nicht. Sie suchten – und fanden – lediglich neue Ursachen.

Meistens sehr beliebt

Trotz ihrer meist abenteuerlichen pathophysiologischen Modelle sind Modediagnosen in der Bevölkerung in der Regel en vogue. Das hat verschiedene Gründe, u.a. weil jede Diagnose eine Legitimation für die eigenen Beschwerden schafft. Das ist psychologisch verständlich, denn man darf nicht vergessen, dass manche Betroffene oft jahrelang unter psychophysiologischen Symptomen leiden, für die keine adäquate Behandlung bekommen – und oft nicht einmal ein Verständnis. Nicht selten stellt man sie zu Unrecht als Simulanten hin.

Es ist in der Therapieforschung gut beschrieben, dass sich das Leiden von Menschen dadurch häufig noch verstärkt. Eine Modediagnose bietet hier oft einen vermeintlichen Ausweg, denn sie bietet ein sympathisches Erklärungsmodell an, manchmal benennt sie sogar einen Schuldigen, wie bspw. einen Funkmast als vermeintliche Ursache für die Migräne (sie kann jedoch ganz eindeutig NICHT durch elektromagnetische Wellen ausgelöst werden).

Bekannt geworden in dem Zusammenhang ist das Sick Building Syndrom. Menschen in Büros litten zunehmend unter Kopfweh, Rückenschmerzen und Erschöpfung. Die kurze Berühmtheit dieser Diagnose fällt mit der veränderten Arbeitswelt ab den 60er Jahren zusammen: Menschen saßen ab dieser Zeit täglich immer länger an Schreibtischen, weil sich die Wirtschaft von der Produktion und dem Handwerk in Richtung Büroarbeit zu verlagern begann. Schuld war aber nicht das „erkrankte Büro“, wie es der Begriff suggeriert, sondern der passiver werdende Lebenswandel in Verbindung mit anderen Stressfaktoren, die durch ein Leben im Büro auftreten können. Dessen ungeachtet wurde die Diagnose von Betroffenen in ihrer Anfangszeit als äußerst entlastend erlebt, denn sie konnten mit dem Syndrom endlich belegen, worunter man litt, und hatte überdies noch einen guten Grund, dem Büro aus gesundheitlichen Gründen fernbleiben zu dürfen.

Mitunter erschaffen, um Geld zu verdienen

Manche Modediagnosen wurden und werden von der Industrie kreiert, um mit einer entsprechenden, zufällig gleichzeitig verfügbaren Behandlung Geld verdienen zu können oder andere (politische) Ambitionen zu verfolgen.

Ein eklatantes Beispiel hierfür war das Sissi-Syndrom in den späten 90er Jahren, eine Kombination aus einer depressiven Agitiertheit in Verbindung mit einer Essstörung. Das Syndrom wurde strategisch entworfen und mit Hilfe von ausgeklügelten Marketingstrategien verbreitet. Zunächst mit Erfolg: Das Sissy-Syndrom war beliebt, denn es bedeutete für Depressive, sich mit einer Erkrankung identifizieren zu können, die etwas „adeliges“ hatte. Für sich etwas in Anspruch nehmen zu dürfen, unter dem schon die beliebte österreichische Kaiserin litt, machte das Störungsbild damals extrem beliebt. Erst Jahre später wurde bekannt, dass es sich um die dreiste Erfindung einer Pharmafirma handelte, die sich damit den Verkauf eines speziellen Medikaments erhoffte. Das Erfinden von Krankheiten, um sich neue Absatzmärkte zu erschließen, ist in der Medizin als „disease mongering“ bekannt. Das Sissi-Syndrom konnte trotz aller Bemühungen keiner wissenschaftlichen Konzeptualisierung Stand halten. Als der Betrugsfall aufflog, verschwand es ebenso schnell wieder, wie es aufgekommen war.

Betroffene sind keine Simulanten

Achtung! Selbst bei Anwendung o.g. Kriterien dürfen Modediagnosen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Betroffene Symptome haben, unter denen sie leiden. Sie bilden sich ihre Beschwerden auch nicht ein und simulieren sie in den allermeisten Fällen auch nicht.

Auf der Suche nach einer Ursache mögen viele Attribuierungsversuche in die Irre führen oder manchmal hanebüchen anmuten. Aber dennoch sind die Beschwerden Betroffener echt und ihr Wunsch nach einer Diagnose und einem Namen für die Symptome ist psychologisch genauso nachvollziehbar wie der Versuch einer Behandlung medizinisch indiziert ist.

Nicht verwechseln

Jetzt kommt aber der entscheidende Punkt: Nicht alle modernen Erkrankungen erfüllen gleichzeitig auch die klassischen Kriterien einer Modeerkrankung.

Das allseits bekannte ADHS ist bspw. keine klassische Modediagnose! Das Syndrom unterliegt zwar durchaus einem hohen medialen Interesse, das in Wellen immer mal wieder auf- und wieder abebbt. Aber für das Störungsbild haben wir wissenschaftlich mittlerweile gute evaluierte Konzepte der Entstehung und der Aufrechterhaltung. Wir wissen -zumindest in Teilen-, was im Gehirn Betroffener passiert, und welche Areale, Funktionssysteme und Neurotransmitter beteiligt sind. Wir wissen zudem, welche medikamentösen und behavioralen Behandlungsmethoden helfen. ADHS ist eine biologische Erkrankung des Gehirns. Es stößt Menschen mit der Diagnose zurecht vor den Kopf, wenn sie in eine Schublade gesteckt werden, in der schlecht evaluierte, erfundene oder eingebildete Modediagnosen liegen.

Auch das Post-Covid Syndrom oder das Post-Vacc Syndrom sind keine Modediagnosen! Es handelt sich vielmehr in beiden Fällen um immunologische Spätfolgen einer durchgemachten Infektion, respektive einer erfolgten Impfung. Aufgrund einer mittlerweile respektablen weltweiten Forschung wissen wir, dass bei Betroffenen das Immunsystem überschießend auf den Kontakt mit dem entsprechenden Antigen reagiert und entzündliche und vaskuläre Prozesse anstößt, die die Erkrankung auslösen bzw. aufrechterhalten. Beide Syndrome sind weder psychisch verursacht, sondern fußen auf biologischen Prozessen.

Evidenz bleibt das höchste Ziel

Modediagnosen machen deutlich: Krankheit ist kein allein medizinisches Phänomen, sondern auch ein gesellschaftliches! Viele Krankheitsbegriffe sind Ausdruck aktueller Überzeugungen, Ängste und Sorgen in der Bevölkerung – und des vorherrschenden Zeitgeistes. Gerade psychische Beschwerden sind und bleiben für abenteuerliche Erklärungsmodelle anfällig, weil sie sich häufig der objektivierbaren Nachweisbarkeit entziehen.

Modediagnosen erfüllen eine Funktion, sei es, weil sie allgemeine Ängste bedienen, oder weil sie Beschwerden mithilfe eines akzeptierten Erklärungsmodells legitimieren. Leider sind bestimmte Modediagnosen nicht frei von einem gewissen Lobbyismus. Sie werden politisch verwendet oder um mit Ihnen Geld zu verdienen. Viele Betroffene fallen auf nebenwirkungsträchtige oder überteuerte Behandlungsmethoden herein, die sie nur ärmer, aber nicht gesünder machen. Wo wissenschaftliche Evidenz fehlt, ist Betrug Tür und Tor geöffnet.

Zur Wahrheit gehört, dass sich Modediagnosen auch in Zukunft nicht vermeiden lassen. Unsere Gesellschaft wird immer wieder neue hervorbringen. Nicht nur Medizin und Wissenschaft, sondern auch die Medien stehen hier in einer hohen Verantwortung, nicht gleich auf jeden Zug aufzuspringen, sondern innezuhalten und den wissenschaftlichen und publikatorischen Standard hochzuhalten.

Eine freundliche Erinnerung an mich selbst

Leider sind auch wir Ärzte dabei nicht frei von einer (medialen) Beeinflussbarkeit und laufen häufig selbst Gefahr das zu sehen, was uns täglich eingetrichtert wird. Wenn ein Patient kommt mit Bitte um Abklärung einer Modediagnose, bedeutet das für mich, stets vorsichtig zu bleiben und genau(er) hinzuschauen: Worunter leidet mein Patient? Welche Belege habe ich für meine (oder seine) Annahmen? Wie kann ich ihm helfen, ohne ihm zu schaden? Das gelingt nur, wenn ich immer wieder einen Schritt zurücktrete, mich von vorschnellen Annahmen löse, aufmerksam beobachte und vor allem selbst denke. Wenn wir als Mediziner neugierig bleiben und das Anliegen unserer Patienten ernst nehmen, werden wir in den meisten Fällen auf fündig. Dazu gehört dass ich ihm die Angst vor einer psychischen Ursache seiner Beschwerden nehme, aber gleichzeitig auch, keine körperliche Ursache zu übersehen. Schlussendlich ist es heute leider auch zu eine meiner Aufgaben geworden, dass ich meine Patienten vor schädlichen oder unsinnigen Therapien schützen muss, die in immer größere Zahl verfügbar sind.

Das alles gelingt mir persönlich sicherlich nicht immer. Aber die aktuelle Diskussion um Modediagnosen ist hier eine freundliche Erinnerung an mich selbst…

Hier das etwas gekürzte Video des Interviews für die Deutsche Welle.

 

Vorsicht Modediagnosen - Über falsche Krankheitsmodelle aber echte Symptome

Warum es Modekrankheiten gibt und wie wir mit ihnen umgehen sollten

 

 

 

 

 

Es wäre mir eine große Ehre und Freude, wenn ich Sie künftig mitnehmen dürfte auf meine Reise durch die Welt von Geist und Gehirn.

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