Wodurch entsteht der Lärm in unserem Leben?
Viele Menschen sehnen sich am Ende eines anstrengenden Jahres in den “besinnlichen” Weihnachtstagen nach Ruhe und Stille. Das Bedürfnis ist verständlich, denn unsere Welt ist zuweilen sehr laut. Dabei ist aber häufig weniger der Straßenlärm, der Flugverkehr oder die plärrenden Kinder die akustische Belastung. Der eigentliche Lärm entsteht in unserem Kopf. Unsere Welt ist zu voll.
Was uns belastet, ist das „Zu viel“ an Informationen. Informationen transportieren nämlich Botschaften und Nachrichten, sie wecken Bedürfnisse, und schaffen neue Aufgaben und Verpflichtungen. Informationen werden zur Grundlage von Wünschen und Hoffnungen, aber auch von Sorgen, Ängsten, und klebrig-haftenden Gedanken, die lautstark durch den Schädel kreisen. Manchmal hören wir Stimmen, die uns wie Sirenen verführen oder wie Leistungssport-Trainer anschreien und hart kritisieren. Die lautesten Gedanken sind die zwingenden; die lautesten Gefühle sind die negativen. Sie wühlen uns auf, machen uns unruhig und lassen uns nicht zur Ruhe kommen. Um sie verstummen zu lassen, hilft kein Oropax, denn sie tönen von innen.
In unserer geschwätzigen Gesellschaft möchte sich jeder dem anderen heute lautstark mitteilen, und vorgeben, was man denken, fühlen und tun sollte. Die mediale Berichterstattung zu verschiedenen gesellschaftlichen Themen ist hierfür beispielhaft. Jeder ruft und schreit was anderes. Man hat mitunter das Gefühl, dass man gar nicht mehr weiß, wo einem eigentlich der Kopf steht. Man spürt nur: Er ist irgendwie randvoll. In solchen Momenten werden wir nervös und hektisch und können kaum noch präzise denken. Außerdem tun wir uns schwer mit Entscheidungen, denn wir fühlen uns hin und hergerissen zwischen vielen Optionen und Möglichkeiten. Was ist denn jetzt richtig? Und was ist gut für mich? Die Belastung, die aus dem lauten Stimmengewirr entsteht, ist die Verwirrung. Lärm macht nicht nur akustisch schwerhörig und taub, sondern auch für die eigene, innere Stimme, die uns Klarheit und Sicherheit schenkt.
Stille bedeutet Ruhigstellen
„Stille“ kommt von dem Wort „stellen“. Sie bedeutet also, stehen zu bleiben und innezuhalten, sich für einen kurzen Moment einmal unbeweglich zu machen und anzukommen, wo man ist. Aus dem gleichen Grund stillt die Mutter ihr Säugling. Stillen ist mehr als Füttern, es ist ein liebevolles „Ruhigstellen“ eines hungrig schreienden Kindes, das glückselig im Arm der Mutter seinen Frieden findet. Auch im Erwachsenenalter stellt die Stille etwas ruhig, und zwar die eigene schreiende Seele, die unentwegt meckert, mahnt, erinnert, auffordert, kritisiert und quakt. In Stille verstummen diese Stimmen nach einiger Zeit. Und auf einmal öffnen sich wieder die feinen Kommunikationskanäle zu uns selbst. Wir hören wir wieder unsere innere Stimme, die uns etwa mitteilen möchte.
In Zeiten der Stille, bspw. wenn wir gemütlich durch ein Museum spazieren, in einer Kirche sitzen, oder wenn wir zu Hause eine halbe Stunde meditieren, wird die eigene, innere Stimme wieder hörbar. Dann gibt sie uns Tipps. Wir können hinhören und sie fragen: Was soll ich tun? Wonach ist mir gerade? Wie möchte ich es machen? Aus diesem Grund sagt man auch, in Stille entsteht Klarheit.
Stille Wasser sind nicht nur tief, sondern klar
Machen wir ein kleines Experiment, um sich den Effekt der Stille auf einen verwirrten und aufgewirbelten Geist vorzustellen. Nehmen Sie ein Glas Wasser, in das Sie etwas Sand und Erde einfüllen und mehrmals kräftig mit einem Löffel umrühren. Ruckzuck färbt sich das Wasser schmutzig, und wir verlieren im wahrsten Wortsinn den Durchblick. Wenn Sie das Glas eine Zeit lang stehen lassen, sedimentiert der Sand. Er setzt sich am Boden ab, während der Überstand darüber wieder klar wird. Jetzt erkennen wir wieder feine Strukturen und Details im Wasser.
Ähnlich verhält es sich mit den lauten und lärmenden Informationen, die wir tagtäglich in immer größerer Menge aufnehmen, und die unseren Geist aufwirbeln. Wir sehen irgendwann nicht mehr „klar“. Mit etwas Ruhe setzt sich alles wieder. Prioritäten werden deutlich, unwichtiges rückt in den Hintergrund und Emotionen beruhigen sich. Und auf einmal meldet sich auch unsere innere Stimme wieder, die uns beratend und begleitend zur Seite steht. Endlich haben wir wieder Durchblick und wissen, was wir wollen und wohin die Reise geht. Dann macht sich das Gefühl der Entspannung breit. Man sagt zwar stille Wasser seien tief, aber viel wichtiger ist: sie machen die Dinge wieder klar.
Wachstum im Stillstand
Der vermeintliche Stillstand bedeutet insofern auch immer persönliches Wachstum. Denn wir kommen zur Ruhe, wir räumen unsere Gedanken und Gefühle auf, orientieren uns neu und finden zurück auf unseren Weg. Klarheit bereitet uns vor für den nächsten Schritt.
Vielleicht ist es daher kein Zufall, dass Momente der Stille auch tatsächlich ein Wachstum von Nervenzellen in Gang setzen. In Stille wächst unser Gehirn – und zwar wortwörtlich. Denn im Hippocampus, dem Ort unserer Orientierung, entstehen neue Nervenzellen, wenn es leise ist {Kirste, 2015 #542}. In unseren Gehirnen passiert also das gleiche, was wir auch anderswo in der Natur sehen: Wachstum vollzieht sich dann, wenn die Welt vermeintlich stillsteht.
Die Angst vor der Abnabelung
Stille kann sich zunächst durchaus unangenehm anfühlen, erst recht, wenn man sie nicht gewohnt ist. Denn Stille macht die Gedanken und Gefühle in uns oft erst einmal lauter. Solange wir geistig aktiv sind und uns mit irgendwas beschäftigen, halten sie sich oft etwas zurück. Aber im Vakuum fehlender Ablenkungen drängen sie auf unserer geistigen Bühne plötzlich ganz nach vorn. Wenn es außen still wird, werden sie mitunter ganz laut. Der österreichische Schriftsteller Ernst Ferstl schrieb einmal: „Die Stille zieht Gedanken an, die der Lärm verjagt.“
Wir schrecken also oft vor Stille zurück, weil sie uns mit unschönen Gedanken und Gefühlen konfrontieren kann. Das ist der Grund, warum viele Menschen heute ein ständiges Grundrauschen um sich herum brauchen. Der permanente Konsum verhindert, nicht in schmerzvolle Innenwelten abgleiten zu müssen. Aber damit erweisen wir uns einen Bärendienst. Denn über die digitale Nabelschnur werden wir auf diese Weise permanent mit weiteren Informationen versorgt. Dadurch tönen viele neue Stimmen, die uns zwingen, schubsen oder verführen. Mentale Autonomie entsteht erst durch die Abnabelung und den Mut, selbst zu denken und zu fühlen. Stille schenkt hierfür den Raum.
Bestimmen Sie selbst, was Sie in Ihren Kopf lassen
Als Psychiater rate ich Ihnen aus der Tiefe meines Hirns und meines Herzens: Lassen Sie immer wieder stille Momente im Leben zu, auch wenn sie anfangs schwerfallen. Entfliehen Sie ihnen nicht. Sie berauben sich wichtige Momente der Klarwerdung und des persönlichen Wachstums, wenn Sie sich mit einer Ablenkung nach der anderen betäuben, nur um bloß nicht allein mit sich zu sein. Das Schöne ist: Sie können selbst bestimmen, womit Sie das Vakuum füllen, wenn sie die digitale Nabelschnur durchschneiden. Die folgenden Tipps können Ihnen dabei helfen:
1) Nehmen Sie ganz bewusst das Schöne unmittelbar um Sie herum wahr. Genießen Sie das, was gerade jetzt im Moment stattfindet und nur deswegen spürbar wird, weil sie sich von der komplizierten Welt gerade etwas lösen. Die geringere Ablenkung schafft viel mehr Raum für diese Tiefe. Sie erleichtert den Fokus auf das, was gerade gut ist in Ihrem Leben.
2) Schaffen Sie Erinnerungen, in dem Sie an angenehme Dinge denken, die Ihnen widerfahren sind. Spüren Sie einmal in sich, ob es etwas gibt, für das sie besonders dankbar oder stolz sein könnten? An das Schlechte erinnert uns unser Gehirn meist ganz von selbst. Das Gute müssen wir uns immer wieder ins Gedächtnis rufen. Erinnern Sie sich daher an diese Momente und speichern Sie sie noch einmal ganz bewusst ab.
3) Gehen Sie auf Abstand zu Ihren Alltagssorgen. Das geht in Stille der Natur oft deutlich besser. Vielleicht haben Sie mal bemerkt, dass die Probleme, die Sie vorher noch stark belasteten, bei einer Wanderung durch eine schneebedeckte Landschaft plötzlich ganz klein wurden. Beim Aufenthalt in der stillen Natur verlieren wir nämlich unsere stark ich-zentrierte Sichtweise zugunsten eines größeren Ganzen. Wir blicken sprichwörtlich über unseren Tellerrand hinaus. Das EGO wird kleiner, das ICH wird stärker. Das macht vieles leichter.
4) Hören Sie auf ihr Bauchgefühl, erst recht, wenn Sie gerade vor einer Entscheidung stehen. Wonach ist Ihnen zumute? Auf diese Weise trennen Sie sich möglicherweise von Zielen, die ihnen gar nicht guttun, die Ihnen vielleicht jemand anderes eingeredet hat. Wir haben heute keinen Mangel an Zielen, sondern eher zu viel davon. Die kritische Prüfung, was will ich eigentlich, schafft wertvolle Klarheit.
Machen Sie es sich gemütlich leise
Stille ist also zusammengefasst weitaus mehr als akustische Ruhe. Es ist die Freiheit von Denk- und Gefühlszwängen, die uns die Außenwelt permanent einimpft. Ihr Kopf wird frei, wenn Sie sich nicht ständig von außen verführen, ermahnen, maßregeln oder anderweitig aufwirbeln lassen, sondern wenn sich der ganze Schmutz an Informationen endlich am Boden absetzt, und den Blick darüber wieder freigibt, so wie eben in unserem Experiment mit dem Glas Wasser.
Versuchen Sie deshalb am besten jeden Tag für ein paar kurze Momente Stille aufzusuchen – und auszuhalten, gerade dann, wenn es in den Stunden zuvor laut, voll und geistig besonders anstrengend war. Schalten Sie Ihr Handy, den Fernseher, das Radio und den Lebenspartner aus. Suchen Sie einen Ort auf, an dem es akustisch einigermaßen ruhig ist. Ihr „stilles Örtchen“ muss nicht die Toilette sein. Das Flussufer in der Nähe, der Waldabschnitt vor der Haustür oder der Wintergarten und Balkon sind schöne Plätze hierfür. Lassen Sie die Dinge zur Ruhe kommen. Sedimentieren Sie den aufgewirbelten Sand in Ihrem Gehirn und gewinnen Sie Sandkorn für Sandkorn Klarheit zurück.
Machen Sie es sich doch in den restlichen Tagen des Jahres ab und zu einmal gemütlich leise. Nach dem lauten und verwirrenden Jahr 2021 hat Ihr Gehirn das verdient. Im Besten Fall deckt eine dicke Schneedecke für die Zeit um die Feiertage das Leben zu und erinnert uns auf diese Weise freundlich an etwas: Auch in einer Gesellschaft, die ständig in Bewegung ist, darf einmal alles stillstehen, damit die wir uns erholen und wieder Kraft tanken, damit unsere Wunden heilen und damit frische Motivation für etwas Neues entsteht. Auch wenn man heute durchaus den Eindruck gewinnen kann, die Welt würde immer hektischer und lauter, bleibt gelegentliche Stille auch in Zukunft für jeden von uns notwendig.
Der deutsch-französische Maler und Lyriker Hans Arp sagte einmal: „Einst wird man von der Stille wie von einem Märchen erzählen.“
Lassen wir es nicht dazu kommen…
Hören Sie hier die ausführliche Version als Podcast aus der Reihe Gehirn Gehört
Folge 19: Stille