Mitunter überschätzt!
Erwerbstätige verschiedener Altersklassen und beider Geschlechter geben heute häufiger und schneller an, „gestresst“ zu sein und eine „Auszeit“ zu benötigen. Aber haben die (beruflichen) Belastungen wirklich zugenommen?
In manchen Bereichen ist dies eindeutig der Fall. Ich begleite und betreue viele Menschen, bei denen die Arbeitsprozesse in den letzten Jahren zeitlich „dichter“ und die Arbeitsbedingungen „schärfer“ wurden. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Fakt ist nämlich auch, dass wir heute stark verkürzte Geschichten von und über „Stress“ erzählen, was die Gefahr beinhaltet, dass die Darstellung falsch wird. Gemeinhin wird Stress nämlich als viel gefährlicher und belastender eingeschätzt, als er ist. Jedes Frauen- oder Herrenmagazin singt heutzutage das Hohelied einer unbedingten Stressvermeidung, und kaum ein Weiterbildungsseminar kommt ohne Warnhinweise vor einer gesundheitsschädlichen Schädigung von Stress aus. Dabei geht ohne ihn im Leben nichts. Stress ist unverzichtbar! Stress hat sogar unter dem Strich viel mehr positive als negative Aspekte, und er ist weit besser als sein Ruf! Keine Frage: Stress kann krank machen, aber nur dann, wenn er chronifiziert oder wenn die Belastungen im Rahmen extremer Akutereignisse bestimmte Grenzen übersteigen, was nur selten der Fall ist.
Seit Jahren bin ich mit Vorträgen und Seminaren unterwegs, in denen ich mit Vorurteilen über Stress aufräume und Mythen hierüber zu entzaubern versuche. Die Wahrheit ist: Nicht die Anspannung aufgrund einer anstrengenden Aufgabe oder Herausforderung macht den Stress pathologisch, sondern vor allem die Angst vor dessen Folgen. Das ist ein bedeutender Unterschied! Aktuelle Studien zeigen uns, dass der empfundene Stress vor allem dann zum krankmachenden Stress wird, wenn man überzeugt davon ist, er schade und man könne ihm nicht wirkungsvoll begegnen. Ich habe vor einigen Jahren selbst mit meiner Arbeitsgruppe an 150 Studenten zeigen können, dass diejenigen Studenten am stärksten unter (Prüfungs-)Stress litten, die ihn am ängstlichsten interpretierten.1
Falsche Grundannahmen
Die falschen Grundannahmen von Stress können dazu führen, dass Menschen diesen in vielen Situationen des Lebens überschätzen. Die mögliche Konsequenz dessen wiederum ist, dass man oft bereits wegen belanglosen Situationen gefühlt in Stress gerät, weil man eine vergleichsweise harmlose Situation als gefährlich interpretiert. Irrelevant ist das nicht: Oft wird jene Angst nämlich zum Ausgangspunkt der befürchteten Entwicklung. Nach den Ergebnissen einer US-Langzeitstudie mit 29.000 Personen erhöhten falsche Vorstellungen von Stress und seinen angeblich schlimmen Folgen das Risiko eines vorzeitigen Todes um 43%.4
Die angstbesetzte Stressüberschätzung erklärt auch die Diskrepanz zwischen subjektivem Stressempfinden und objektiven Messergebnissen, die wir bei vielen „Betroffenen“ feststellen.2 Konkret: Manche Menschen fühlen sich heute in der Arbeit in hohem Ausmaß gestresst und schnell überfordert, aber die Messungen von Herzratenvarianz, Kortisol oder Muskelspannung im Elektromyogramm zeigen keine aberranten Werte über ein normales Anspannungsniveau hinaus. Das hat erst vor wenigen Wochen wieder eine Untersuchung eines Unternehmens in Kooperation mit der University of Bath an ca. 1.000 Menschen aus England herausgefunden. Fast 86% der „Betroffenen“ waren der festen Überzeugung, dass sich Stress negativ auf Ihre Gesundheit auswirke und hatten Sorge, durch ihre Arbeit krank zu werden. Als man sie jedoch am Arbeitsplatz über mehrere Stunden beobachtete und ihre Herzfrequenz bzw. Herzratenvarianz maß, waren sie zu etwa 70% ihrer Zeit im Büro in einem kardiovaskulär völlig „entspannten“ Zustand. Insbesondere die 18- bis 34-Jährigen schätzen sich selbst als deutlich gestresster ein, als sie es objektiv bzw. physiologisch nachweislich waren.3
Alles nur Einbildung?
Bedeutet das nun, das Phänomen Stress ist generell überwertet? Nein, denn viele Menschen leiden, wie schon erwähnt, heute unter definitiv schlechten Arbeitsbedingungen oder bedrückenden privaten Lebensumständen. Bedeutet es dann, dass etwaige Stresssymptome von arbeitenden (jungen) Menschen nur eingebildet sind? Ebenfalls nein, denn auch subjektive Beschwerden können plausible Belastungen darstellen, die wir medizinisch-psychologisch ernst nehmen sollten. Nicht jede seelische Belastung äußerst sich zwangsläufig in einem physiologisch messbaren Parameter. In der Medizin ist ein Befinden nicht immer gleichbedeutend mit einem Befund. Aber die Studien zeigen eben auch, dass trotz (oder wegen?) der inflationären Verwendung des Begriffes „Stress“ und seiner einseitigen Darstellung in den Medien in der Bevölkerung häufig Un- und Fehlwissen besteht, das der wahren Bedeutung von „Stress“ nicht gerecht wird5. Nicht jede alltägliche Anstrengung, die uns abends erschöpft auf der Couch darnieder sinken lässt, ist krankmachender Stress, der uns Sorgen machen müsste. Was anstrengend ist, macht einen nicht zwangsläufig krank!
Richtige Geschichten erzählen
Wir könnten heute einen Großteil der subjektiven Stressbeschwerden vermeiden, wenn wir die Zusammenhänge richtig eduzieren würden. Denn lassen die Ängste vor den vermeintlichen Stressfolgen nach, lässt auch der Stress selbst nach. Eine ehrliche und kritische Aufklärung über Stress, der eine positivere Einstellung den Belastungen des Lebens beinhaltet, gemeinsam mit effektiven Strategien zur regelmäßigen Entlastung von Kopf und Körper reduziert Stress äußerst zuverlässig und erhöht das subjektive Wohlbefinden. Das haben unterschiedliche Arbeitsgruppen wiederholt in den letzten Jahren an verschiedenen Berufsgruppen zeigen können, bspw. bei Polizisten 6 oder bei Reinigungspersonal.7
Lassen Sie uns gerne in Zukunft weiter über Stress sprechen. Er bleibt ein relevantes Thema in der Arbeitswelt. Aber tun wir es richtig! Verteufeln wir ihn nicht durch simplifizierende Darstellungen. Verbreiten wir keine Angst vor gelegentlichem Zuständen von Überarbeitung und Überforderung. Sonst erweisen wir der jüngeren Generation und uns selbst einen Bärendienst: Der empfundene Stress wird nicht weniger, sondern die Angst vor ihm immer größer.
Fangen wir also an, endlich damit aufzuhören…
Literatur:
- Zunhammer, M., et al., Somatic symptoms evoked by exam stress in university students: the role of alexithymia, neuroticism, anxiety and depression. PLoS One, 2013. 8(12): p. e84911.
- Fauquet-Alekhine, P., L. Rouillac, and J.-C. Granry, Subjective versus Objective Assessment of Short Term Occupational Stress: Bias and Analysis of Self-Assessment of High Stress Levels. Journal of Advances in Medicine and Medical Research, 2020: p. 50-64.
- UCL, New study shows people over-estimate their stress. 2023.
- Keller, A., et al., Does the perception that stress affects health matter? The association with health and mortality. Health Psychol, 2012. 31(5): p. 677-84.
- Souza-Talarico, J.N., et al., Cross-country discrepancies on public understanding of stress concepts: evidence for stress-management psychoeducational programs. BMC Psychiatry, 2016. 16(1): p. 181.
- Keech, J.J., et al., The association between stress mindset and physical and psychological wellbeing: testing a stress beliefs model in police officers. Psychology & Health, 2020. 35: p. 1306 – 1325.
- Langer, E., Mind-Set Matters: Exercise and the Placebo Effect. Psychological science, 2007. 18: p. 165-71.