„Wir wissen nicht, was hinter der Tür liegt“
(Interview für die MBZ, Jahreswechsel 2022/23, Interview / Gespräch mit Angelika Sauerer)
Der Regensburger Neurologe Volker Busch sieht in der Schwellenangst auch positive Seiten
Ein neues Jahr ist wie das Öffnen einer Tür. Hinter uns liegt, was wir schon kennen – Positives wie Negatives. Über die Zukunft können wir nur spekulieren. Die Spannung zwischen Scheitern und Chance verunsichert in diesem Jahr besonders, auch weil uns 2022 gelehrt hat, wie schlimm es plötzlich kommen kann: Krieg in der Ukraine, explodierende Preise, Energieknappheit. Mit solchen Katastrophen hatte niemand gerechnet. Umso banger wird es einem an der Schwelle zum neuen Jahr. Der Regensburger Neurowissenschaftler, Arzt und Psychiater Volker Busch erklärt, warum das so ist und woraus man Hoffnung schöpfen kann.
Herr Busch, was ist Schwellenangst?
Volker Busch: Ich würde es nicht Angst nennen. Angst ist ein diffuser Begriff, unter dem wir viele verschiedene Dinge subsumieren – sowohl die Angst davor, den Bus zu verpassen, als auch die Angst vor einem bissigen Hund. Schwellenangst ist eher ein Unsicherheitsgefühl. Das trifft es besser.
Was ist heute schon noch sicher?
Volker Busch: In der Tat ist Unsicherheit das Gefühl unserer Zeit. Die Welt hat ihre Vorhersehbarkeit und Vorhersagbarkeit verloren – politisch, wirtschaftlich gesellschaftlich und zuletzt auch noch gesundheitlich. Wir wissen einfach nicht, was hinter der Tür liegt.
Da kann man es aber schon mit der Angst zu tun kriegen. Volker Busch: Die Unsicherheit kann sich bei manchen zu einer klinischen Angststörung entwickeln. Aber das ist Gott sei Dank nicht allzu häufig der Fall. Meist zeigt sie sich darin, dass man Kopfkino hat, dass man nicht abschalten kann, dass man schlecht schläft. Aber auch darin, dass man sich nicht mehr freuen kann, dass die Leichtigkeit verloren geht oder ganz konkret sogar der Humor. Unsicherheit nimmt uns ein Stück gefangen. Sie hält uns emotional und gedanklich im Klammergriff. Das ist natürlich kein schönes Gefühl.
Manchmal weiß man ja auch, was auf einen zukommt – man weiß nur nicht, ob man der He- rausforderung gewachsen ist.
Volker Busch: Genau. Deswegen bezeichnen wir Unsicherheit in der Psychologie als erwartete Überraschung. Ein Bei- spiel: Ein geübter Skifahrer, der sich den Hang hinunterstürzt, weiß ungefähr, was ihn erwartet. Aber wie genau diese Ab- fahrt ablaufen wird, weiß er natürlich nicht. Diese Unsicherheit regt ihn an und motiviert. Und sie macht wachsam, denn ein gewisses Restrisiko bleibt ja dabei. Unsicherheit kann uns aufmerksam machen, sehr präzise und sorgfältig denken lassen und Kräfte freisetzen.
Das heißt, Unsicherheit wirkt nicht nur negativ?
Volker Busch: Unsicherheit ist sogar ein ganz wichtiger Zu- stand. Ich bin überhaupt kein Gegner von Unsicherheit. Ich verstehe, dass sie sich unbequem anfühlt. Sicherheit ist immer bequemer – landläufig nennt man das Komfortzone. Aber wirklich bewegen tun sich Menschen nur in Unsicherheit.
Wie zum Beispiel?
Volker Busch: Wenn Sie sich etwa in Ihrer Beziehung unsicher fühlen, dann geben Sie sich mehr Mühe. Wenn Sie im Straßenverkehr unsicher sind, dann passen Sie besonders genau auf. So ist es in vielen an- deren Bereichen auch. Wenn wir Unsicherheit empfinden, so heißt das zunächst mal nur, dass unser Körper in einem gewissen Alarmzustand übergeht. Das kann unangenehm sein, kann uns aber auch besser machen. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass wir immer auch diese Phasen der Unsicherheit brauchen, damit wir uns verändern und anpas- sen, damit wir weiterkommen.
Große Unsicherheit besteht derzeit bezüglich der Gasversorgung. Wozu führt das?
Volker Busch: Natürlich ist das gerade kein schönes Gefühl, nicht zu wissen, ob das Gas über den Winter reicht. Aber ganz ehrlich: Es motiviert doch die Politik und die Wirtschaft immens dazu, kreativ zu sein, um eine Lösung zu finden. Das alles geschieht aus einer Unsicherheit heraus. Sie bewirkt, dass wir uns mittelfristig verändern und vielleicht sogar verbessern können. Das ist die positive Seite der Unsicherheit.
Warum ploppen die Sorgen, die Unsicherheiten immer ausgerechnet „zwischen den Jahren“ auf und setzen uns zu?
Volker Busch: In den Tagen, in denen es ruhig wird, kommt man auch häufiger ins Denken. Das ist vor Weihnachten noch nicht der Fall, weil jeder durch unglaublich viel Betriebsamkeit abgelenkt ist. Zwischen Weihnachten und Silvester, fällt das von einem ab, man wird passiver und kommt ins Grübeln. Manche Menschen spüren dann die sie umgeben- den Unsicherheiten mehr, weil ihnen die Ablenkung fehlt.
Nicht selten haben dabei negative Gedanken die Oberhand.
Volker Busch: Menschen neigen dazu, in ihrer Wahrnehmung schnell das Negative zu sehen, sich stärker darauf zu konzentrieren und sich im Nachhinein auch besser daran zu erinnern. Diese Negativitätsverzerrung – negativity bias – ist ein gut beschriebener Effekt, den man durch Studien in verschiedenen Kulturen immer wieder belegen konnte. Die Strahlkraft des Negativen ist höher als die des Positiven.
Kommt man da je wieder raus? Volker Busch: Niemand ist den negativen Gedanken hilflos ausgeliefert. Man kann lernen, das Positive zu sehen. Es geht nicht darum, Beunruhigendes durch die rosarote Brille zu be- trachten, sondern darum, sich die schönen Dinge des Lebens bewusst zu machen und sich an sie zu erinnern. Das kann man üben. Im Laufe der Zeit gelingt es damit, im Gehirn eine faire Bilanz herzustellen.
Wie praktiziere ich das?
Volker Busch: Am besten am Ende eines Tages. Denn mit dem Gedanken, mit dem wir abends zu Bett gehen, beschäftigt sich das Gehirn auch in der Nacht. Wenn wir mit den Tagesthemen einschlafen, träumen wir eher von schlechten Nachrichten oder liegen mit einem rotierenden Gedankenkarussel wach. Doch wenn wir den Fernseher ausmachen und danach in unser Tagebuch schreiben, wofür wir an diesem Tag dankbar sind, was wir ge- leistet haben und was trotz der schwierigen Umstände, die wir alle erleben, gut gelaufen ist, dämmen wir die Strahlkraft des Negativen ein – und schlafen auch besser. Das wurde in Studien eindeutig belegt.
Den Medien wird gerne angelastet, dass sie das Negative herausstellen. Tun sie vielleicht ja auch, aber wir selber machen es anscheinend auch nicht besser.
Volker Busch: Genau. In den Sozialen Netzwerken teilen wir viel lieber Nachrichten, die uns empören, die uns Angst machen und die wir ekelhaft fin- den als die schönen Dinge. Die Medien sind nur der Spiegel unserer Gesellschaft. Wir haben selber eine Sucht nach verunsichernden und beunruhigenden Nachrichten. Wie bei allem, was wir konsumieren, ist es eine Frage der Dosis: Schokolade in Grenzen genossen ist kein Problem, in Überdosis wird es gefährlich.
Ist bei diesem Jahreswechsel die Schwellenangst größer, weil ein schwieriges Jahr hinter uns liegt – oder überwiegt das Gefühl: Jetzt ist eh schon alles egal, es kann ja nur besser werden?
Volker Busch: Es gibt eher mehr Verunsicherung. Wir haben die Talsohle noch nicht er- reicht, das spüren die Menschen. Wir sind eigentlich gera- de dabei, die schlimmsten Dinge abzufedern, indem der Staat bei den Energiekosten hilft. Trotz aller Probleme sehen das die Leute natürlich. Wenn wir ganz ehrlich sind, hat die Mehrheit hier noch nicht auf sehr viel verzichten müssen. Aber das wird vielleicht nicht so bleiben. Ich glaube, dass die Leute beim Blick in die Zukunft eher pessimistisch geworden sind. Viele denken, das Schlimmste steht uns erst bevor. Ich sehe noch keine Erschöpfung, sondern eher eine ängstliche, unsichere Erwartungshaltung.
Wird uns diese Erwartungshaltung lähmen oder wird es uns gelingen, das Potenzial aus der Unsicherheit zu nutzen?
Volker Busch: Einzelne Menschen wird es lähmen. Aber gesamtgesellschaftlich werden wir das schultern. Ein Blick in die Historie beweist: Menschen haben so viele Krisen überwunden, sie werden es auch diesmal schaffen. Auch weil es immer einzelne Personen gibt, die über sich hinaus- wachsen und die Gesellschaft weiterbringen, indem sie etwas entwickeln und sich einbringen. Manche aber gehen auch in Gegenwehr. Ein Beispiel dafür sind etwa die Reichsbürger, die behaupten, dass die Gesetze des deutschen Staates für sie nicht gelten. Das System zu verweigern ist eine erschreckende Form der Bewältigung einer Krise, obwohl sie intra- psychisch logisch kohärent erscheint: Wenn ich meine Schul- den nicht bezahlen kann, tu ich einfach so, als gäbe es den deutschen Staat nicht.
Wenn uns Verunsicherung weiterbringt – sind wir jetzt schneller unterwegs als in den Jahren zuvor?
Volker Busch: Es gibt sogar Soziologen, die so weit gehen zu sagen: Gesellschaften entwickeln sich eigentlich nur in Krisen weiter. Wenn alles gut läuft, ist der Fortschritt oft marginal. Wenn wir zufrieden und saturiert sind, müssen wir ja nichts ändern. Der österreichische Psychiater und Holocaust- Überlebende Viktor Frankl hat sein Leben unter die Krisen- und Stressforschung gestellt. Er begründete die Logotherapie, die davon ausgeht, dass sich Menschen grundsätzlich nur in Krisen entwickeln, nie- mals, wenn alles glatt läuft.
Das ist dann doch ein optimistischer Blick: Die Krise und die damit verbundene Unsicherheit kann eine Chance sein.
Volker Busch: Absolut. Und das sage ich jetzt nicht, weil ich irgendwie trösten will, sondern weil ich davon überzeugt bin. Wenn wir diesem furchtbar schrecklichen und unmöglichen Krieg gegen die Ukraine irgendetwas Positives abtrotzen wollen, dann ist es viel- leicht die Tatsache, dass wir es durch diesen erzwungenen Schwung vielleicht schaffen, schneller auf erneuerbare Energien umzuschwenken…
Volker Busch
Wissenschaft: Volker Busch (Foto: Petra Homeier) ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie und leitet die Psychosoziale Stress- und Schmerzfor- schung an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg am Bezirksklinikum.
Autor und Redner: In Büchern, Vorträgen, Videos und Podcasts nimmt er sein Publikum mit in die Welt von Geist und Gehirn. Sein Buch „Kopf frei! Wie sie Klarheit, Konzentration und Kreativität gewinnen“ (2021 bei Drömer erschienen) führte wochenlang die Spiegel-Bestsellerliste an. Sein Podcast „Gehirn gehört“ ist frei über seine Webseite https://drvolkerbusch.de verfügbar.
Foto Petra Homeier