Gemeinschaft first:
In Brechts Dreigroschenoper ruft die Seeräuber-Jenny: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Als Psychiater möchte ich ergänzen: Dazwischen kommen noch die Beziehungen, die Menschen zueinander aufbauen. Sorry, lieber Bertold. Denn sobald wir satt sind, beginnen wir an unsere Mitmenschen zu denken und ihre Nähe zu suchen. Der Mensch braucht Beziehungen und Gemeinschaft, und zwar mehr als ihm bewusst ist.
Die Gründe für das Miteinander – sozial aber egoistisch
Aber warum eigentlich? Die meisten Gründe, warum wir immer wieder zusammenfinden und Gemeinschaft suchen, sind sozialer Natur. Viele von ihnen sind egoistisch. Wir versprechen uns von Beziehungen Beistand, Hilfe, Trost, Solidarität und Unterstützung. Die Erfahrung eines starken Zusammenhalts kann sich so tief in das Gedächtnis graben und dabei gleichzeitig so beglückend sein, dass Menschen diesen Zustand manchmal um jeden Preis erhalten wollen, selbst wenn die Situation, in die sich die Gruppe begibt, objektiv gesehen gefährlich ist. Bei ehemaligen Kriegsveteranen hat man dies beobachten können: Nach Rückkehr in die Heimat nach mehreren Monaten, wünschten sie sich nichts sehnlicher, als in ihr Platoon zurückkehren zu können.
Verbundenheit hält gesund
Gruppenzugehörigkeit schützt unsere Seele und erhält unsere Gesundheit. Bei einer Gruppe von italienischen Einwandern eines kleinen Ortes namens Roseto in Pennsylvania hat man dies das erste Mal so beobachten können. Die Integration aller Menschen, ob jung oder alt, führt zu einer allgemein niedrigeren Rate an Herzerkrankungen, Stoffwechselstörungen und psychischen Belastungen.
Die Pandemie ist für viele Menschen deswegen belastend, weil sie zueinander Abstand halten müssen. Der Verzicht der Nähe schmerzt, denn ein Gemeinschaftsgefühl wird immer auch durch das unmittelbare Zusammensein von Menschen erzeugt. Aber es ist nicht allein von physischer Nähe abhängig. Das Gefühl starker Verbundenheit kann auch durch Briefe, Telefonate oder Videocalls entstehen. Eine Studie der Universität Oregon aus dem Jahr 2018 zeigte an mehr als 1400 älteren Probanden, dass die Kommunikation mit ihren jüngeren Verwandten über Skype die Wahrscheinlichkeit depressiver Entwicklungen statistisch halbierte.
Bloß nicht außerhalb
Wenn wir über Gemeinschaft sprechen, geht es nun weniger darum, ständig von Menschen umringt sein zu müssen, oder alles im Leben in permanenter Nähe zu gestalten. Nicht einmal ein großer Freundeskreis ist unbedingt nötig für den positiven Effekt einer Gemeinschaft.
Entscheidend ist, sozial akzeptiert zu werden, und das Gefühl zu haben, dazuzugehören. Menschen, die wissen, dass sie für eine Gruppe wichtig sind und von ihren Mitmenschen geachtet, respektiert oder gebraucht werden, können auch mit Distanz und Alleinsein viel besser umgehen.
Die Belastung entsteht, wenn in Menschen das Gefühl wächst, ausgeschlossen zu sein, nirgends dazuzugehören oder sogar im schlimmsten Fall von einer Gruppe ausgeschlossen zu werden. Der Fachbegriff dazu heißt „social rejection“. Die Vermeidung ständiger sozialer Zurückweisung hat für die psychische Integrität eines Menschen sogar eine höhere Bedeutsamkeit als geliebt zu werden. Niemanden zu haben, der einen liebt, macht traurig. Aber man kann es psychisch überleben. Nicht zu wissen dagegen, wohin man hingehört, weil einen jeder ablehnt, macht einsam und zerstört die Seele. Die meisten Amokläufer, die furchtbare Anschläge auf viele Unschuldige verüben, sind zumeist genau solche Menschen, die in ihrer persönlichen Vergangenheit viele Erfahrungen der übelsten Zurückweisung machen mussten und bei denen in einer wachsenden sozialen Isolation irgendwann die schreckliche Überzeugung heranreift: Ich gegen den Rest der Welt!
Tipps für den Einschluss unserer Mitmenschen
Gott sei Dank gibt es viele Möglichkeiten sich und seinen Mitmenschen das Gefühl zu schenken, Teil einer Gemeinschaft zu sein.
1) Lassen Sie Ihre Nachbarn, Bekannte und Freunde wissen, was sie Ihnen bedeuten. Zeigen Sie Wertschätzung und Dankbarkeit für Hilfe oder eine freundliche Geste, die man Ihnen entgegenbringt und handeln Sie genauso. Machen Sie Ihren Mitmenschen wertvoll, indem Sie ihnen soziale Akzeptanz und Respekt entgegenbringen. Kleine Gesten können bereits starke Wirkung entfalten.
2) Lassen Sie ältere Mitmenschen teilhaben am öffentlichen und privaten Leben. Unterhalten Sie sich mit Ihrer verwitweten Nachbarin, laden Sie den älteren Herren um die Ecke zum Straßenfest ein. Achten Sie auch darauf, Ihre eigenen Eltern in Gemeinschaft zu halten und so gut es geht in die Familie und den Freundeskreis zu integrieren. Das signalisiert ihnen, nach wie vor dazuzugehören und wirkt sich positiv auf ihre Gesundheit aus. Und in Zeiten physischer Distanz geht das heute auch digital sehr gut. Das Gefühl der Verbundenheit entsteht auch über einen Bildschirm.
3) Gehen Sie besonders behutsam und liebevoll mit schwachen oder am Rand stehende Menschen in Ihrem Kollegium um. Zeigen Sie ihnen, dass Sie sie annehmen, wie sie sind. Und schützen Sie sie vor Angriffen anderer oder dem Verlust von Selbstwert innerhalb der Gruppe. Oftmals ist es viel wichtiger, Betroffene vor Negativem zu bewahren, statt sie mit Liebe und Komplimenten zu überschütten, die sie oft gar nicht annehmen können.
Ein Schlussgedanke:
Zum ersten Mal geht es seit der Corona-Krise nicht mehr nur um den Kampf eines jeden Einzelnen, sondern um eine Gemeinschaft in größerem Umfang. Das darwinistische Modell erfährt aktuell eine wichtige Anpassung. Die vielen Partikularinteressen müssen zurückstehen zugunsten der Gesundheit vieler, gerade älterer und schwacher Mitmenschen. Das neue Zauberwort heißt Gemeinschaft. Die Krise lehrt uns wieder an alle zu denken, statt nur an den Nutzen einiger weniger.
Für eine Gesellschaft werden alle Einzelnen benötigt, ähnlich wie ein Bild, das sich aus durchaus zwar verschiedenen, aber eben gleich wichtigen Puzzleteilen zusammensetzt. Es liegt an uns, dafür Sorge zu tragen, dass jeder Mensch seine Chance bekommt, ein Teil dieses Bildes zu werden…