Zwischen Herzschmerz und Kopfkino –
Die psychischen Folgen der Ausgangsbeschränkungen in der Corona-Krise
Die derzeitige Corona-Krise hat nicht nur Auswirkungen auf die Wirtschaft, sondern auch auf unsere Psyche. Neben den eigenen Krankheitsbefürchtungen und den wirtschaftlichen Existenznöten sind vor allem die Ausgangsbeschränkungen für viele Menschen belastend. Letztere waren richtig und wichtig. Aber mit welchen psychologischen Auswirkungen werden wir rechnen müssen? Was macht eine mehr oder weniger strenge Isolation eigentlich mit unserem Geist und unserem Gehirn?
Wissenschaftliche Studien haben die psychologischen Folgen untersucht
Ein kürzlich erschienenes Review der Fachzeitschrift Lancet hat 24 Paper aus insgesamt 10 Ländern auf diese Fragestellung hin ausgewertet. Elf von ihnen untersuchten die psychischen Folgen der Ausgangsbeschränkungen durch SARS-Virus Epidemien. Auch wenn die Verhältnisse in anderen Ländern nicht immer mit denen in Deutschland vergleichbar sind, sind orientierende Aussagen aufgrund dieser und anderer Studien möglich.
Psychische Beschwerden sind häufig
Die Inzidenzen für psychische Störungen ganz global schwanken je nach Strenge der Ausgangsbeschränkungen, ihrer Dauer und anderer Faktoren zwischen 5 und 25%. Allein in einer Beobachtungsstudie von vor 17a bei einer SARS-Epidemie in China entwickelten 16% eine Depression, ca. 25% eine posttraumatische Belastungsstörung. Insgesamt wird die Dunkelziffer der unerkannt bleibenden psychischen Beschwerden als hoch eingeschätzt.
Die Belastungsfaktoren sind vielgestaltig
Die stärksten Belastungsfaktoren @home sind die soziale Trennung von seinen Mitmenschen, die Unsicherheit bezüglich der näheren Zukunft, der Verlust von Gewohnheiten und Routinen, die für viele Menschen stark belastende Langeweile und verschiedene Formen von Beziehungskonflikten, sei es zwischen den Partnern oder zwischen Eltern und ihren Kindern.
Ältere Mitmenschen sind nicht die Risikogruppe
Ein höheres Risiko für psychische Belastung tragen dabei übrigens nicht unsere älteren Mitbürger. Sie sind zwar deutlicher gefährdeter für die virale Erkrankung an sich, nicht jedoch für eine Angsterkrankung. Ältere Menschen leiden durchaus stark unter dem Verlust sozialer Beziehung, haben aber eher weniger Angst vor der Krankheit per se oder deren wirtschaftlichen Folgen. Das Alter bringt hier in aller Regel Gelassenheit mit sich. Zu den klassischen Risikogruppen psychischer Folgestörungen gehören vielmehr:
- Beschäftigte im Gesundheitssektor, weil sie in nachvollziehbarer Weise besonders belastet sind
- Geringverdiener, weil wirtschaftlich bedingte Ängste ihre Existenz gefährden
- sozial stark hilfsbedürftige Menschen, weil oftmals wichtige soziale oder monetäre Zuwendungen wegfallen
- Kinder sozial schwächerer Familien, da die für sie wichtige kognitive Förderung durch Kitas und Schulen verloren gehen
- Menschen, die Opfer in Beziehungen bzw. Partnerschaften sind (meist Frauen)
Ab der dritten Woche wird es schwer
Insgesamt zeigt sich, dass Menschen 10-14 Tage in aller Regel relativ gut und vor allem folgenlos wegstecken. Solange die Arbeitsstelle sicher ist und Kühlschrank und Watchlist bei Netflix prall gefüllt sind, gibt es keine Probleme. Die Zeit zu Hause hat anfangs fast etwas Urlaubsflair. Erst nach diesem Zeitpunkt steigt die Rate psychischer „Reaktionen“ auf die Quarantäne an, dafür mit zunehmender Dauer umso merklicher. Der steigende subjektive Belastung unterliegt vielen Variablen und hängt stark von der untersuchten Zielgruppe ab. Aber er ist unverkennbar. Zu den häufigsten Beschwerden gehören Depressivität, Ängstlichkeit, aber auch Erschöpfung und Schlafstörungen. Mehrere Studien belegen auch ein Anstieg von Suchtverhalten (insbes. Alkohol).
Aggressivität und Stigmatisierung können steigen
Weitere Folgestörungen von Ausgangsbeschränkungen beinhalten leider auch aggressives Verhalten und Delinquenz bzw. bewusste Gesetzesverstöße. Mehrere Studien haben übrigens zeigen können, dass sich ein Teil der Aggressionen nicht selten auch gegen Personen richtet, die infiziert sein könnten, wie etwa Beschäftigte im Gesundheitsbereich. Das ist umso tragischer, da genau diese Menschen unsere gesundheitliche Versorgung mit besonderem Engagement aufrechterhalten. Aber jede zunehmende psychische Belastung birgt die Gefahr für Ventile, durch die sie sich entlädt. Auch die wachsende Stigmatisierung der Pflegenden entsteht in einem solchen Kontext. Mehrere Arbeitsgruppen haben diesen Effekt an Populationen in verschiedenen Kulturkreisen belegen können.
Psychische Last drückt sich unterschiedlich aus.
Nicht alle zeigen ein depressiv-ängstliches Gesicht, nicht alle Wege führen in ein Krankenhaus. Mitunter zeigt sich die Belastung auch in Form von unsozialem Verhalten. Sowohl unfaire Hass-Posts im Netz gegenüber vermeintlich Schuldigen oder häusliche Gewalt gegenüber Schutzbefohlenen kann einer tief empfundenen (ängstlichen) Unsicherheit entspringen, die subjektiv als so irritierend und belastend erlebt wird, dass die Leitplanken für soziales Verhalten verloren gehen.
Empfehlungen für unsere Mitmenschen und uns selbst
Folgende Faktoren können nachweislich helfen die Belastungen zu reduzieren –
Eine kurze Dauer der Ausgangsbeschränkung:
Ausgangsbeschränkungen dürfen nur so lange wir irgend nötig aufrechterhalten werden. Die Freiheit zu jedem Zeitpunkt überall hin gehen zu können, ist kein Luxus, sondern ein psychisches Grundbedürfnis. Die Politik steht hier in der Verantwortung trotz der richtigen Maßnahmen der bisherigen Ausgangsbeschränkungen das hohe Gut einer freien Aufenthaltsbestimmung sicherzustellen und bestmöglich zu verteidigen.
Verlässliche Informationen:
Klarheit schafft Orientierung. Und Orientierung reduziert psychische Belastungen. Selbst in Situationen, die nicht gewiss sind, kann Sicherheit dadurch entstehen, dass Dinge klar kommuniziert werden. Selbst negative Botschaften schaffen bei psychisch labilen Menschen mehr Sicherheit als gar nichts zu erfahren oder ständig ändernden Informationsströmen zum Opfer zu werden. Unternehmer können psychische Beschwerden ihrer Mitarbeiter nachweislich dadurch reduzieren, dass sie durch regelmäßige und verlässliche Kommunikation Vertrauen schaffen.
Eine sinnvolle Aufgabe:
Die Seele nimmt weniger Schaden, wenn die allgemeinen Beschränkungen und Verzichtsmomente durch sinnvolle Aufgaben gegenkompensiert werden. Ein geringerer Freiheitsradius lässt sich deutlich leichter verkraften, wenn man sich mit etwas beschäftigt, bei dem man sich als selbstwirksam erlebt. Ältere Menschen in Seniorenheimen genau wie Kinder ohne regelmäßige Schultätigkeit brauchen daher feste Tagesstrukturen mit sinnvollen Beschäftigungen.
Verbundenheit:
Das Gefühl verbunden zu sein mit seinen Mitmenschen, die einem liebevoll zugewandt sind und die bei Bedarf unterstützend helfen, ist einer der stärksten Stabilisierungsfaktoren für die Psyche. In Krisenzeiten bedeutet der Verzicht auf reale Begegnungen dabei kein Verlust der Beziehung. Sie kann übergangsweise auch virtuell erfolgen. Gleich mehrere Arbeiten haben jüngst die hohe Wirksamkeit und Akzeptanz sozialer Medien bei älteren Menschen zeigen können, die auf einem Tablet regelmäßige Video-Calls mit ihren Kindern und Enkeln tätigen konnten.
Ausreichend Bewegung:
Bewegung und Sport stärken nicht nur das Herz und Stoffwechsel. Gerade in psychischen Krisen ist regelmäßige Bewegung extrem wichtig. Ausdauersportarten in der freien Natur stabilisieren die Stimmung und bauen Botenstoffe ab, die im Stress vermehrt im Gefäßsystem zirkulieren. Dadurch reduziert sich nervöse Anspannung und längerfristig entwickelt sich eine höhere Widerstandskraft gegen psychische Belastungen.
Humor und Ablenkung:
Nicht mal der stärkste Mensch kann sich tagelang nur mit Problemen und Krisenbewältigung beschäftigen. Jedes Gehirn braucht Möglichkeiten zur Ablenkung. Insbesondere Humor kann eine besonders befreiende und entlastende Funktion besitzen ebenso. Dem Umstand wird in der Regel leider viel zu wenig Rechnung getragen. Je stärker die Last der Gedanken und Gefühle, desto wichtiger ist eine barmherzige Selbstregulation, die dafür sorgt, dass das Gehirn immer wieder Abstand gewinnt. Erlaubt ist dabei alles, was Distanz schafft zu den Problemen des Alltags.
Keine Studie(n) ohne Limitierungen
Die psychischen Folgen der Ausgangsbeschränkung bleiben leider etwas ungewiss. Die Studien sind zwar größten Teils sorgfältig durchgeführt, zum Teil aber nur wenig vergleichbar, da eine Quarantänemaßnahme in China teils deutlich drastischere Einschränkungen beinhaltet, als wir es bei uns derzeit erleben. Selbst innerhalb eines Landes sind die Bedingungen zwischen Familien zu unterschiedlich, um weltweit einheitliche Aussagen über psychische Erkrankungswahrscheinlichkeiten treffen zu können. Es ist wenig strittig, dass eine Familie mit 5 Personen in einer 75qm Wohnung im 17. Stock eines Hochhauses eine andere Belastungsintensität aufweisen wird als ein reiches Ehepaar in einer Villa mit Pool am Tegernsee. Für Deutschland können wir insgesamt auf kaum Vorwissen zurückgreifen, welches uns eine evidenz-basierte Vorhersage der psychischen Folgen der Ausgangsbeschränkungen erlauben würde.
Was lernen wir für die aktuelle Krise?
Zynisch formuliert, befinden uns derzeit alle in einem unfreiwilligen Feldversuch. Wenn wir die Situation aber klug nutzen, um Daten hierüber sorgfältig zu erheben, werden wir einen großen Schatz an Erfahrungen bergen. Sie können uns helfen in Zukunft an vielen Stellen des öffentlichen Lebens wirksame Prävention seelischer Erkrankungen zu gewährleisten.
Eine gute Nachricht darf zum Schluss natürlich nicht fehlen. Ich bin Psychiater. Sie lautet: Die ersten Lockerungen sind gerade beschlossen. Das öffentliche Leben wagt sich vorsichtig und Stück für Stück wieder aufs Parkett. Wenn wir den Wiederbeginn gemeinsam besonnen gestalten, wird das die schlimmsten Entwicklungen verhindern helfen. Für unsere Familie, Freunde und Bekannten, die dennoch von den psychischen Folgen direkt oder indirekt betroffen sind, sollten wir mit viel Verständnis, Mitgefühl und Unterstützung nach der Krise da sein.
Denn eines haben wir doch alle miteinander in den letzten Wochen schätzen gelernt: Wie kostbar und wertvoll die Nähe zu unseren Mitmenschen ist…
Quellen
Brooks, S et al.: The psychological impact of quarantine and how to reduce it: rapid review of he evidence. Lancet 395, p912-20; 2020
Reynolds DL, Garay JR, Deamond SL, Moran MK, Gold W, Styra R. Understanding, compliance and psychological impact of the SARS quarantine experience. Epidemiol Infect 2008; 136: 997–1007.
Wu P, Fang Y, Guan Z, et al. The psychological impact of the SARS epidemic on hospital employees in China: exposure, risk perception, and altruistic acceptance of risk. Can J Psychiatry 2009; 54: 302–11.
Taylor MR, Agho KE, Stevens GJ, Raphael B. Factors influencing psychological distress during a disease epidemic: data from Australia’s first outbreak of equine influenza. BMC Public Health 2008; 8: 347.
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