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Buschtrommel: Von Bäumen und Briefumschlägen – Was hilft zur gelegentlichen analogen Abstinenz?

Von Bäumen und Briefumschlägen – Was hilft zur gelegentlichen analogen Abstinenz?

Die digitale Geißel der Ablenkung

Neben den wunderbaren Vorteilen digitaler Medien in unserem Alltag und den Möglichkeiten, die sie uns täglich schenken, finden sich auch eine Reihe negativer Aspekte ihrer ständigen Nutzung. Wo Licht ist, ist eben immer auch Schatten.

Ganz wesentlich ist die zunehmend schwerer fallende Fokussierung in allen Bereichen des Lebens, sei es im Straßenverkehr oder am Schreibtisch. Ablenkungen und Unterbrechungen sind heute unsere permanenten Begleiter bei dem was wir tun. Die Menthal-Studie der Uni Bonn fand im Jahr 2015 anhand der Aufzeichnungen von 60.000 Personen eine Unterbrechung einer Aufgabe durch Smartphones alle 18 Minuten. Neuere Arbeiten fanden sogar kürzere Intervalle. Soziale Medien spielen hier seit Jahren die größte Rolle. Konzentration fällt immer schwerer. Dadurch geht einerseits Tiefe und Präzision verloren und die Häufigkeit von Fehlern steigt. Andererseits brauchen wir deutlich länger für die Erledigung einer Aufgabe, denn der ständige Wechsel der Aufmerksamkeit benötigt eine Menge Zeit, je nach wissenschaftlicher Untersuchung 5-8 Minuten bereits nach 1 einzigen Minute Unterbrechung.

Der unterbrochene Mensch

Leicht ablenkbar waren wir übrigens immer schon, auch in Zeiten vor Facebook. Der amerikanische Autor Mason Currey beschreibt in seinem lesenswerten Buch „Daily Rituals: How Artists work“ die Gewohnheiten von über 160 kreativen Denkern, Künstlern und Wissenschaftlern. Sie alle verfügten über eine Reihe von Tricks, mit denen sie sich disziplinierten bei der Sache zu bleiben: Der spätere Literaturnobelpreisträger William Faulkner schraubte bspw. des Öfteren den Knauf von der Außenseite seiner Bürotür ab, so daß niemand während seiner Muße-Stunden in sein Zimmer eintreten konnte. Der britische Schriftsteller Graham Greene richtete sich ein geheimes Büro ein, damit er während seiner kreativen Ruhe ungestört blieb. Nur seine Frau kannte die Adresse. Ehe bedeutet eben Kompromisse. Und der Maler Newell Wyeth klebte sich Scheuklappen an seine Brille, weil er sich immer wieder beim konzentrierten Arbeiten dabei ertappte, wie er aus dem Fenster blickte und seinen geistigen Faden verlor. Das sah vermutlich ziemlich pferdig aus, war aber effektiv.

Viele Anekdoten regen im Rückblick natürlich zum Schmunzeln an. Aber die Geschichten schaffen auch heute noch ein hohes Maß an Identifikation, weil sie an unsere Situation heute erinnern: Auch geistig erfolgreiche Menschen erlagen offenbar immer wieder ihren ablenkenden Impulsen. Durch ein paar beherzte Kniffe jedoch eliminierten Sie typische Störenfriede ihres Alltags. Auf diese Weise entstanden geistige Freiräume, in denen Platz war, sich mit Wichtig(er)em zu beschäftigen. Das Vorgehen war erfolgreich, Ihre Geschichten machen Mut. Selbstdisizplin ist eben nicht nur Ausdruck eines gottgegebenen Talents, sondern entsteht auch durch die kluge Gestaltung eines gehirngerechten Arbeitsumfeldes. Sobald unser Geist in Tiefe in etwas versinken kann, steigt nachweislich die geistige Leistung.

Digitale Abstinenzhilfen

Da Brillen mit Scheuklappen in den allermeisten Fällen dämlich aussehen (Selbstversuch), empfehle ich eher zeitgemäße Werkzeuge: das Smartphone selbst. Welch Ironie! Tatsächlich aber gibt es längst eine Reihe wirklich toll gemachter Apps, die uns helfen können, Ihren Fokus wiederzufinden. Im Folgenden habe ich einmal ein paar von den aus meiner Sicht geeigneten Apps für Sie zusammengestellt. Die Apps verfolgen die gleiche Intention, aber gehen dabei alle ihren eigenen Weg: Bei manchen schalten Sie einzelne Programme oder gleich das ganze Handy stumm. Andere wiederum belohnen das Verhalten ihrer „Nichtnutzung“ oder sanktionieren ihre eigene „Zuvielnutzung“. Abstinenztraining mit Zuckerbrot oder Peitsche. Sie entscheiden!

Morph (Android)

Hier passen Sie Ihr Handy an Ihr Nutzungsverhalten an, in dem Sie die Programme an die Zeit und die Orte Ihres Tages anpassen. Alles andere wird stumm geschaltet. Sie legen also bspw. fest, daß Sie morgens in der Straßenbahn nur an Hörbücher herankommen. Oder Sie legen fest, daß soziale Medien nur nach dem Abendessen für eine Stunde zur Verfügung stehen. Abends im Bett gibt’s dagegen nur Musik, etc. So werden Gewohnheiten geschaffen, die Ihnen helfen sich selbst zu disziplinieren.

Post Box (Android)

Hier wird Ihr Smartphone zu einem virtuellen Briefkasten. Das sind die Dinger, die früher vor den Haustüren hingen, als man noch echte Briefe bekam. Alle Nachrichten, die Ihnen Mailserver und Apps schicken, werden hier „eingeworfen“ und so lange aufbewahrt, bis Sie Ihre Box leeren. Sie selbst bestimmen Zeitpunkt und Häufigkeit der Leerung. Aus Push wird also Pull. Tipp: Am Anfang häufiger am Tag einrichten, später im Verlauf immer seltener. So gewöhnt man sich daran. Verloren geht dabei letztlich nix. Beruhigend: Notfallnummern, die Sie vorab bestimmen, gehen immer durch. Es klingelt dann in jedem Fall, so wie früher beim Briefträger, der wichtige Post vorbeibrachte…

Desert Island Android)

In dieser App simulieren Sie einen Ausflug auf eine einsame Insel, auf der nur 5 Apps erlaubt sind. Sie müssen am Morgen auswählen, auf welche Programme Ihres Smartphones Sie im Verlauf des Tages nicht verzichten können. Der Rest der Inhalte wird für 24 Stunden unerreichbar. Warum ein Insel-WLAN für 5 Apps ausreicht, für mehr aber nicht, sollte man hier besser nicht hinterfragen. Egal. Die Idee ist prima. Wählen Sie also sorgfältig die wichtigsten Apps aus. Nach bereits einem Tag bekommt man ein Gespür dafür, was wirklich wichtige Bildschirmzeit ist und was nicht. Vorsicht: unbedingt die richtige App herunterladen. Unter „Morph“ finden Sie nämlich eine Reihe teils absurder Fotobearbeitunsprogramme, mit denen Sie Ihr faltiges Gesicht jugendlich glätten können. Schön für den, der es braucht. Aber eher das Gegenteil der Idee, die hier verfolgt wird.

Forest (iOS / Android)

Der Klassiker unter den Abstinenzapps! Hier pflanzen Sie Bäume. Je länger Sie Ihr Smartphone ungenutzt liegen lassen, desto detailreicher wächst das Bäumchen. Im Verlauf bekommt es sogar Blüten und Früchte. Aus einem Baum wird schließlich ein ganzer Wald. Wer seinen Impulsen erliegt und ständig zum Handy greift, zahlt einen hohen Preis: Der Baum welkt, verliert seine Blätter und geht schließlich gänzlich ein. Waldsterben wegen Impulsschwäche. Das tut gleich doppelt weh. Genau darin liegt Reiz und die Motivation der App. In der neusten Version lassen sich sogar virtuelle Münzen sammeln, die gegen echte Bäume getauscht werden können. Nachhaltiger geht es kaum.

Self Control (iOS)

Mit dieser App können Sie einzelne Webseiten oder Programme für einen bestimmten Zeitraum blocken. Sie stellen besonders störende Unterbrecher auf einer schwarzen Liste selbst zusammen oder nutzen bereits vorgefertigte Listen häufiger Störenfriede. Doch gehen Sie behutsam vor! Self Control ist streng mit Ihnen. Der Neustart des Smartphones oder die Deinstallation der App nützt Ihnen nichts. Wer die App nutzt, muss mit den Konsequenzen leben. Aber genau daher ist sie auch recht effektiv.

Manche der genannten Apps für das Betriebssystem Android sind Teil des sog. Digital Wellbeing Experiments von Google. Die Idee dahinter ist eine Plattform zu schaffen, auf der Menschen ihre Erfahrungen miteinander austauschen können, um voneinander einen sorgsamen Umgang mit Informationstechnologie zu lernen.

 

Ein Briefumschlag lässt Sie reflektieren

Übrigens: Falls Ihnen die Nutzung von Apps für mehr Selbstdisziplin zu digital ist, hilft vielleicht auch eine einfache Papierschachtel. Eine neue Idee der o.g. Digital Wellbeing Initiative von Google soll den Übergebrauch reduzieren, in dem man sein Smartphone in einen selbst zu bastelnden Briefumschlag („Envelope“) steckt. Fortan sind nur noch Anrufe und die rudimentäre Nutzung der Fotokamera möglich. Für alles andere müssen Sie den recht umständlich verschlossenen Umschlag ebenso umständlich wieder öffnen. Ob Menschen ein ultrateures Smartphone in Edeloptik bereitwillig in einem grauen Briefumschlag mit sich herumtragen werden, darf bezweifelt werden. Aber die Idee ist spaßig und haut psychologisch in die richtige Kerbe: Das Handy meldet akustisch eine Whatsapp. Sie wollen nachsehen und greifen impulsiv zum Umschlag. Der ist verschlossen. Die Nachricht ist nicht unmittelbar einsehbar. Die kurze zeitliche Verzögerung schafft Platz zum Nachdenken: Muss ich jetzt wirklich an das Ding ran? Möglicherweise gelangen Sie durch diese Reflexion zu einer ganz anderen Verhaltensreaktion statt durch den automatischen Impuls. Das ist der erste wichtige Schritt zu neuem Verhalten. Denn Handlungen, die wir reflektieren, können wir leichter kontrollieren, anpassen oder verändern. Das kann ein einfacher Briefumschlag also durchaus wert sein. Und besser aussehen als Scheuklappen tut er auch.

Schenken Sie sich Freiräume

Probieren Sie doch ein paar der Apps oder den Envelope einfach mal aus. Schlimmes passieren kann dabei nichts. Wenn Sie Glück haben, gewinnen Sie wertvolle Zeit. Zeit für Fokus. Egal ob Sie ihn nutzen, um eine Aufgabe zu bewältigen, ob um in Musik versinken oder ob Sie ihn verwenden, um Ihrem Gesprächspartner aufmerksamer zuzuhören. In jedem Fall belohnt Ihr Gehirn Tiefe mit Genauigkeit und mit mehr Genuss. Eine Investition, die sich in den allermeisten Fällen lohnt. Und machen Sie sich abends klar, zu was Sie alles am Tag gekommen sind, weil Sie nicht so viel Zeit damit verschwendet haben auf jeden Reiz sofort zu reagieren. Je mehr positive Erfahrungen Sie dabei machen und sich in Erinnerung rufen, desto leichter wird es Ihnen fallen, gelegentliche analoge Abstinenz auch in Zukunft zu verteidigen oder vielleicht sogar auszubauen.

Das Ziel ist dabei nicht ein Leben ohne Handy zu führen. Wir dürfen und sollen es zweifelsohne auch weiterhin nutzen und in Momenten genießen, wo es guttut und hilfreich ist. Es geht mehr darum ein versöhnliches Miteinander zu finden zwischen unserem Gehirn und der digitalen Technik, zwischen einer virtuellen Welt voller Bildschirme und der Rückkehr unseres Geistes in die analoge Realität, in der sich unser Leben abspielt…

Es wäre mir eine große Ehre und Freude, wenn ich Sie künftig mitnehmen dürfte auf meine Reise durch die Welt von Geist und Gehirn.

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